Die Zukunft der Psychoanalyse hängt davon ab, inwieweit sie ein ähnliches Interesse für gesellschaftliche Fragen entwickeln kann, wie es der ersten Generation der Psychoanalytiker gelang.

(A. Mitscherlich)

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Warum Kernberg irrt - zur Debatte um die Modernität von Psychoanalyse

Freud Psychoanalyse modern Kernberg Neurobiologie
Ist die Psychoanalyse Freuds in der Moderne angekommen? Bild Psychointuos by Angeldrop

 

Im Interview mit der Wiener Tageszeitung Der Standard spricht der renommierte Psychoanalytiker Otto Kernberg über die anhaltende Bedeutung Freuds für die moderne Psychoanalyse und den Einfluss der Neurobiologie auf seine Lehre. Die Verfortschrittung der Psychoanalyse geht bei Kernberg jedoch zu Lasten der Freudschen Erfahrung.

 

Otto F. Kernberg, 1928 in Wien geboren, gehört zur alten Garde der ich-psychologischen Schule der Psychoanalyse. Sein Wort findet Gehör weit über die USA hinaus, wohin seine Familie nach dem Anschluss Österreichs vor den Nazis fliehen musste. Unzweifelhaft gilt er als exzellenter Kenner der Psychoanalyse.

 

Im Standard-Interview erklärt er den ungebrochenen Einfluss Freuds für die Psychoanalyse damit, dass dessen Erkenntnisse nach wie vor “fundamental bestimmend” sind. Als Beispiel nennt er die Entdeckung der unbewussten Motivation von Verhalten und ihre Verbundenheit mit Trieben wie Libido und Aggression. Nach heutigem Erkenntnisstand liege der Ursprung der Triebe jedoch “in Affektsystemen, die genetisch gegeben sind und sich neurobiologisch ausdrücken, was zu Freuds Zeiten vollkommen unbekannt war”.

 

Nun prophezeite Freud bekanntlich selbst, dass die Psychoanalyse eines Tages von der Neurobiologie und der Hirnforschung abgelöst werden könnte. Naturwissenschaften waren für ihn so etwas wie das gelobte Land, in das er seine Entdeckung geführt sehen wollte und in dem seine Lehre volle fachwissenschaftliche Anerkennung finden würde. Sofern die psychoanalytische Erfahrung als Kur und Theorie jedoch ganz maßgeblich mit den sprachlichen Mitteilungen von Subjekten zu tun hat, handelt es sich um Vorstellungen, Geschichten und weitere Bildungen der Phantasie.

 

Anders gesagt, die Analyse Freuds spielt sich innerhalb sprachlich-symbolischer Ordnungen ab; sie gehen jedoch in den positivistischen Evidenzen der Naturwissenschaften nicht auf. In Freuds Schriften gibt es sofern auch deutliche Hinweise darauf, dass er jeglicher Versuchung aus dem Weg gehen würde, die "psychische Lokalität etwa anatomisch zu bestimmen" (Freud 1900a, S. 541). Genau in diese Richtung weisen aber Analytiker wie Kernberg, die in der Neurobiologie die Referenz einer "modernen" Psychoanalyse sehen.

 

Freuds Einlassungen in Richtung auf zukünftige neurobiologische Errungenschaften für seine Wissenschaft stehen gewiss auch im Zusammenhang mit seinem berechtigten Beharren darauf, dass der Untersuchungsgegenstand von Psychoanalyse nicht zuletzt auch ein biologischer ist: “Das Ich ist vor allem ein körperliches” (Freud 1923b). Und in der Tat untersucht psychoanalytische Forschung seelische Phänomene, ohne dabei den körperlichen Zusammenhang aus dem Blick zu verlieren.

 

Die Verschiebung der Determinanten des Freudschen Unbewussten auf ein Affektsystem mit neurobiologischer Fundierung, wie Kernberg es einer zeitgenössischen Psychoanalyse zuträgt, zwängt den psychoanalytischen Ansatz in den Diskurs naturwissenschaftlicher Erklärungsmodelle sowie der denselben Evidenzregeln folgenden Gesundheitspolitik. Diese Unterwerfung nimmt dem psychoanalytischen Denken - dem Freudschen Diskurs - jedoch seine Spitze.

 

Vor allem jedoch führt die Verbindung von Psychoanalyse und Neurobiologie dazu, dass der Körper seine tiefere Wahrheit verliert. Hierauf weist etwa Marie-Luise Angerer (2007) in ihrem Buch Vom Begehren nach dem Affekt hin: Aus neurobiologischer Sicht erscheint der Körper als binärer Funktionsmechanismus. Mit weitreichenden Folgen für das Menschenbild: Der Mensch wird dann nicht mehr als sprachliches Wesen verstanden, sondern als affektgeleitet. Freuds genuine Entdeckung, dass sich das Unbewusste über bildliche Übertragungen (Metaphern), Wortbrücken, Redewendungen, Versprecher, Witze, Kalauer - also anhand von symbolisch-imaginären Übertragungen - konstituiert und ausdrückt, gerät dabei aus dem Blickfeld.

 

Was ist dann eine moderne Psychoanalyse? Der Fehler Kernbergs wie auch anderer Psychoanalytiker, die diese Frage aufwerfen, liegt darin, Psychoanalyse unter einem an die Naturwissenschaften angelehnten Fortschrittsverständnis ummodeln zu wollen. Das ist nicht nur riskant, sondern auch unnötig. Riskant, weil es das Risiko bedeutet, die epistemischen Grundlagen des Freudschen Unbewussten aus dem Blick zu verlieren; und unnötig deshalb, weil sich die Frage der Modernität in Bezug auf Psychoanalyse anders stellen lässt.

 

Wie lässt sich eine moderne Psychoanalyse denken? Begreift man den analytischen Diskurs als eine Kulturtechnik, richtet sich die Frage nach seiner Modernität an den Fähigkeiten und dem Geschick ihrer Anwender aus. Psychoanalytikerin oder Psychoanalytiker ist dann jemand, der in der Lage ist, die Bedingungen für psychoanalytisches Arbeiten unter den jeweils gegebenen Voraussetzungen immer wieder neu zu schaffen und zu halten. Dies beinhaltet die Ausweitung des Anwendungsbereichs psychoanalytisch perspektivierten Denkens und Arbeitens.

 

Ausbildungsrichtlinien für Psychoanalytiker, so unverzichtbar sie für unser heutiges Verständnis sein mögen, erscheinen da wenig hilfreich. Sie tragen dazu bei, die analytische Erfahrung und das Denken Freuds durch die Hintertür zu einem Herrschaftsdiskurs zu machen. Das Erlernen der Kompetenz, psychiatrische Diagnosen zu stellen, wie Kernberg es vehement einfordert, schlägt da eher die verkehrte Richtung ein. Denn diese Auffassung von Psychoanalyse übernimmt die Wissensdiskurse von mainstream-Ordnungen, von denen sich Freud in Theorie und Praxis doch stets konsequent zu emanzipieren versuchte. Die Frage nach der Modernität von Psychoanalyse sollte sich daher daran messen lassen, wie sie mit ihrem Untersuchungsmaterial umzugehen versteht.

 

Die Psychoanalyse Freuds verbindet biologische und sozio-kulturelle Einflussfaktoren. Daher untersucht sie Triebschicksale, Triebkonflikte und Triebrepräsentanten. Freud verlagerte die Dynamik dieser Faktoren ins Unbewusste, dem er den allgemeinen Status zuschrieb. Vom Unbewussten erlangen wir indes nur mittelbar Kunde. Während sich unsere soziale Realität durch verschiedene Verhaltensweisen ergibt, definiert sich die psychische Realität, für die sich die Psychoanalyse interessiert, an allerlei möglichen Objekten und Phänomenen, bei denen es keine so klare Grenze zwischen Dichtung und Wahrheit gibt.

 

Psychoanalyse schöpft ihr innovatives Potential aus dieser Verbindung von Mythenbildung und Theoriearbeit, wie es sich noch am besten aus Freuds Schriften - ganz gleich ob Früh- oder Spätwerk - erfahren lässt. Der Mythos - Urform der Erzählung - vereint alle Formen narrativer Darstellungskunst. Theoriearbeit in der Psychoanalyse verlangt ja auch, sich am Material, an der empirischen Beobachtung, auszurichten, um nicht in die Nähe bloßer Weltanschauung zu geraten. Die Kombination beider epistemischen Instrumente macht die Einzigartigkeit psychoanalytischen Argumentierens und Arbeitens aus - nicht nur in der Kur, sondern auch in innovativen Arbeitsformaten außerhalb rein klinischer Anwendungen.

 

Zugleich darf man die psychoanalytische Erklärungskraft nicht überschätzen. Ihre abduktiven Folgerungen konfligieren mit den Objektivitätserwartungen unserer medial aufgeklärten Zeit. Psychoanalytische Theorien beanspruchen oftmals nichts weiter, als Hilfsvorstellungen zu sein, so lange es keine besseren gibt. Doch bis dahin kann der psychoanalytische Prozess das Denken in Bewegung halten und die herrschenden Diskurse durcheinanderbringen und auf diese Weise innovativ und modern sein. Moritz Senarclens de Grancy

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Kommentare: 2
  • #1

    Werner Mikus (Sunday, 29 November 2015 23:33)

    Wichtig, diese Widerrede! Sehr wichtig und weitgehend gelungen! Danke!

  • #2

    Dunja Voos (Friday, 08 January 2016 19:04)

    Wunderbar ausgedrückt. Bewundernswert. Ich sage auch: Danke!