Die Zukunft der Psychoanalyse hängt davon ab, inwieweit sie ein ähnliches Interesse für gesellschaftliche Fragen entwickeln kann, wie es der ersten Generation der Psychoanalytiker gelang.

(A. Mitscherlich)

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Psychoanalyse und Affekttheorie – Zum aktuellen Buch "Affektökologie" (2017) von Marie-Luise Angerer

Die Spatzen werden es schon von den Dächern pfeifen.. Trumps Erfolgsrezept ist Affekt plus Twitter. Bild The Tweet Keep Comin', SS&SS
Die Spatzen werden es schon von den Dächern pfeifen.. Trumps Erfolgsrezept ist Affekt plus Twitter. Bild The Tweet Keep Comin', SS&SS

 

Von Moritz Senarclens de Grancy

 

Die Digitalisierung bringt manche Gewissheit ins Wanken, zum Beispiel im Hinblick auf die Unterscheidung von Mensch und Maschine. Neu ist nicht so sehr der Cyborg, der menschenähnliche Roboter, sondern die datenbasierten digitalen Helfer, die sich massenhaft anschicken, uns das Leben zu erleichtern. Ihre Algorithmen agieren im Hintergrund und sind darauf programmiert, uns mit spielerischer Leichtigkeit dort abzuholen, wo wir sie bislang nicht erwartet haben: in der Sphäre des Affektiven. Weil wir mit jedem Mausklick eine individuelle Spur im Netz hinterlassen, können Algorithmen nicht nur unser Konsumverhalten und Interessen auslesen, sondern auch den Code unserer Leidenschaften. Weitgehend ahnungslos in Bezug auf die technische Intelligenz von Facebook, Google und anderen Internetplattformen lassen sich Menschen von intelligenten Algorithmen austesten und lenken – wie zuletzt bei den Wahlkampagnen vor den österreichischen Parlamentswahlen.

 

Die Forschung interessiert sich daher seit langem dafür, die Schnittstelle von Mensch und Maschine neu auszuloten. Hier setzt der Essay der Medienwissenschaftlerin Marie-Luise Angerer an und untersucht mit dem Modell einer Affektökologie die Grenzverschiebungen im Diskursverlauf zwischen zwei Formen von Intelligenz – Mensch und Maschine –, die sich immer weiter annähern. Angerer zufolge verstärken Medien die Mobilisierung von Affekten nicht nur, sondern sind vor allem deren Bedingung. Als gemeinsamer Berührungspunkt erweist sich der Affekt insofern prädestiniert, als sein dem Denken vorgelagerter Naturalismus es erlaubt, über ein Szenario zu reflektieren, in dem der Wirklichkeitszugang über biomorphes “Erfassen” (A. N. Whitehead) - jenseits diskursiver Ansprüche - Verbindungen und Wirklichkeitsbezüge herzustellen imstande ist.

 

Affekte sind Erregungszustände, die sich unmittelbar körperlich - zum Beispiel im Erröten, Magengrummeln, Herzrasen, Schwindel, Übelkeit oder auch mit der Faust auf den Tisch Hauen - kundtun, wobei dem Einzelnen zunächst nicht immer klar ist, warum sich diese Reaktion einstellt. Der Körper nimmt also eine Reaktion vorweg, die vom Ich nur nachträglich - mit zeitlicher Verzögerung - eingeordnet werden kann.

 

Nach Freud (1895d) bilden Affekt und Vorstellung die Ebenen, auf denen sich jeder Trieb ausdrückt. Wird der Affekt von der Vorstellung entkoppelt, kann er Angstzustände hervorrufen, während die dem Affekt zugehörige Angstvorstellung ins Unbewusste verdrängt wird. Mehr noch als beim Gefühl ergibt sich die Bedeutung einer Affekthandlung sofern erst aus der Analyse ihres Ursachenzusammenhangs.

 

Die Autonomie des Affekts – also dass er nicht an den Willen gekoppelt ist – lässt das Affektive für konzeptionelle Anknüpfungen geeignet erscheinen, die von einer subjekt- und diskursunabhängigen Situationsdeutung ausgehen. Dieser Ansatz ermöglicht es, Verbindungen zwischen Mensch und Maschine herzustellen. Zum Beispiel greifen Apps und ihre Algorithmen auf unsere Daten zu und nutzen sie, um unsere innere Einstellung zu verstehen und Vorhersagen über sie zu treffen. Sie eröffnen fortwährend Anreize für mehr Interaktionsbereitschaft, aus denen sie wiederum neue Daten generieren, um ihre Funktionsweise zu verfeinern. Die Maschinen gegenwärtiger und zukünftiger Epochen lernen aber nicht nur fortwährend über uns hinzu, sie lernen auch, unsere Affekte zu kopieren. Emojis mit ihren Schematismen des Mimischen stellen da nur eine vergleichsweise rudimentäre Darbietungsweise dar. Smartphones können vibrieren, Fingerabdrücke erkennen, Selfies machen, uns an unbekannte Orte lotsen u.s.w. Der Gebrauch dieser devices kann süchtig machen, für manchen ersetzt er sogar den Lebenspartner.

 

Das Verführerische an den affektiven Maschinen ist, dass sie mit ihren Affektnachahmungen mitten ins Herz unserer Liebesbereitschaft treffen. Sie appellieren an den Spieltrieb, wecken die Neugier und binden unser Denken und Fühlen an ihre Reizimpulse. Beim affective computing (Rosalind Picard) werden inzwischen Systeme entwickelt, die Gefühlsregungen beim Menschen erkennen und die ihrerseits auf Menschen affektiv einwirken können. Längst sind Maschinen imstande, Affekte zu kopieren und die Gespaltenheit auszufüllen, die den Menschen ausmacht. Dabei haben Maschinen den Vorteil, dass sie darin viel schneller sind. Das Prekäre ist jedoch, dass sich die maschinelle Affizierung jenseits des Sprachlichen vollzieht. In der Ära des Affektiven wird der inhaltliche Bezug zur Beliebigkeit. Kommunikation ist keine spezifisch menschliche Aktion mehr; die Sprache der Maschinen ist eine ikonographische, intuitiv verständliche. Sprache und Diskurs treten in den Hintergrund. Was fortan Verbindungen schafft, ist die Spur aufeinanderfolgender affektgeleiteter Interaktionen. Denn der Affekt suggeriert unmittelbar Evidenz, weil er als authentisch aufgefasst wird, was durchaus zutrifft: Der Affekt spricht aus sich heraus für sich selbst, und das macht ihn äußerst glaubwürdig.

 

In der Wutbürgerkultur ersetzen jedoch Affekte Argumente. Bei “Stuttgart 21” fühlten sich Bürger über den affektiven Ausdruck ihrer Wut- und Ohnmachtsgefühle zum Widerstand gegen demokratisch erzielte Entscheidungen legitimiert. Aber wir erleben auch das Gegenteil, nämlich eine neue Unfähigkeit zum Affekt. Sie zeigt sich darin, dass mancheiner nicht mehr weiß, wie man als jemand aussieht, der fröhlich oder traurig ist. Solche Leute benötigen Erinnerungsbilder, die ihnen helfen, verschüttete Affekte zu reaktivieren. Als weitere Folge stellt sich dann auch das Gefühl wieder ein.

 

Der Aspekt der Unmittelbarkeit ist ein Signum in Angerers Affektökologie. Im Reich des Affektiven braucht es keinerlei symbolischer Vermittlung, um die Relationen in Gang zu setzen, die die Körper verbinden. Was heißt das für die Psychoanalyse, für das Subjekt des Begehrens und die analytische Kur sowie deren auf Sprache und Sprechen ausgerichtetes Verfahren? Sie erscheinen obsolet in einer Wirklichkeit, in der sich das Relationale nicht rational, sondern auf affektive Weise reguliert.

 

“Mit dem Fokus auf die Affekte”, schreibt Angerer, “wird nun eine Verlagerung von einem psychoanalytisch definierten Unbewussten auf das Bewusstsein eingeleitet, die mit der Gehirnforschung, wie sie sich im 20. Jahrhundert auszubilden beginnt, im letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts abgeschlossen wird. Für das 21. Jahrhundert gilt das Bewusstsein als das große Forschungsfeld, die Psychoanalyse ist von Neurologie und Bio-Kybernetik abgelöst worden” (Angerer 2017, S. 52).

 

Das Politische scheint derzeit im Erstarken populistischer Tendenzen Angerer und weiteren Autoren wie Oliver Marchart Recht zu geben, die ein umfassendes Verständnis von Affizierungsprozessen in Politik und Gesellschaft fordern. Populistische Strömungen stehen demokratischen Verfahren antagonistisch gegenüber. Marchart spricht im Rückgriff auf Ernesto Laclaus und Chantal Mouffes poststrukturalistischer Demokratietheorie sofern von einer Affektologie auf der Basis eines “ontologischen Antagonismus” (vgl. Angerer 2017, S. 60). Angerer verknüpft Marcharts Ansatz mit Brian Massumis Einführung einer “Autonomy of Affect” (1996), um zu dem Schluss zu gelangen, dass der Affekt “Intensität (ist), die einer anderen Ordnung angehört” (S. 61). Und gelangt von von hier zum “Realen” Jacques Lacans.

 

Angerer entwickelt aus den genannten Ansätzen die Formel, derzufolge politische Affekte die Begegnung mit dem Antagonismus sind, der dem Register des Realen angehört. Um daran anschließend mit Laclau (1990) den Blick auf eine dem Antagonismus-Konzept vorgelagerte Eben zu lenken – der Dislokation: “Es ist nämlich diese immer schon vorgängige Verschiebung, die sich mit dem Realen (Lacans) und damit möglicherweise mit der Zone des Affektiven zusammendenken lässt. Das Reale und die Dislokation sind beide ‘unrepräsentierbar und gleichzeitig einerseits traumatisch/disruptiv, andererseits produktiv’ (Stavrakakis 1998, 185). Damit ist die mögliche Verbindung zum Affektiven hergestellt, allerdings nicht, wie Marchart schreibt, auf der Ebene des Antagonismus (der immer schon ein diskursives Muster beansprucht), sondern auf der vorgelagerten der Dislokation. Die Differenz zwischen Affekt und Gefühl (...) ist – im Lacanschen Denken – zwischen symbolischer/imaginärer Ordnung und dem Realen (des Affekts) zu verorten” (S. 61 f.).

 

Mit dem Realen versucht Lacan, einen Bereich zu erfassen, den der menschliche Geist nicht mehr strukturieren kann. Kennzeichnend hierfür ist, dass sich das Reale den Regeln widersetzt – etwa den Regeln der Sprache wie beim Versprecher. Das Reale macht sich aber auch im Erleben bemerkbar – zum Beispiel wenn etwas zufällig eintritt, sich unheimlich anfühlt oder wenn eine Begegnung scheitert oder - im Gegenteil - unvorhergesehen konkret wird. Grundsätzlich hat das Reale etwas Unausweichliches und triebähnlich Drängendes an sich. Das trifft übrigens auch auf die Objektwahl zu: Jenseits der sogenannte Freiheit der Wahl verhält es sich so, dass es das Subjekt zur Wahl drängt und diese Wahl in weiterer Folge die Freiheit der Selbsterfahrung als Funktion einer spezifischen Struktur entlarvt. Eingedenk dieser Beispiele wird erkennbar, dass das Reale die Funktionsstruktur einer Beziehungskonstellation markiert, für die es weder eine symbolische Bezeichnung noch eine Repräsentation in der Phantasie gibt.

 

Allerdings fragt sich, ob man mit Blick auf das Reale überhaupt von einem Subjekt sprechen kann – steht am Ende doch nicht mehr das souveräne, reflektierende Ich, sondern der Körper als empfindendes und reagierendes Medium. Die “Ich- oder Subjektlosigkeit empfindender Körper” stellt sich auch für Angerer als “Voraussetzung für oder Effekt von (neuen) intensiven Milieus” (S. 62) dar. Daran anknüpfend gelangt Angerer zum Materialismus: “Jedoch nicht im Sinne einer affirmativen Relationalität, die alles und jedes in ein heilversprechendes Gesamtgefüge zu überführen trachtet”, sondern eines Materialismus, der in Anlehnung an Althusser, Laclau und Haraway “die Kontingenz ins Zentrum rückt, das Zufällige der Begegnung und die Notwendigkeit des Greifens und Ergriffen-Werdens” (S. 63).

 

Aus affektökologischer Sicht entstehen Verbindungen in Zukunft mithin durch “antagonistische Artikulationen” – sie bilden einen “Knoten in Bewegung” ohne Zweck und frei von vereinheitlichenden Tendenzen. Ein Verbindungen stiftender Knoten, der, wie Angerer weiter ausführt, als unterirdischer Strom die Noch-Nicht-Subjekte formt und mit beliebigen Gesetzen verknüpft. (S. 64) Der Zufall erhält in dieser Affektauffassung die Schlüsselrolle: Denn er garantiert das Überleben von Abweichungen in der vor sich gehenden Transformation von Technologie, Leben und Umwelt.

 

Der Psychoanalyse bleibt in diesem Konzept zu tun, was sie ohnehin am besten kann – Bedingungen für die freie Rede herleiten. So kann sie etwa den Symptomcharakter dieser Transformation aufspüren. Das könnte zum Beispiel gelingen, indem die symbolische Dimension eines Phänomens herausdestilliert und das Symptomatische an ihm identifiziert würde. Psychoanalytisch Arbeiten hieße insoweit auch weiterhin, Strukturen und Funktionen zu entwickeln, die selbst in unstrukturierbaren Feldern Beurteilungen ermöglichen und die dazu beitragen, dass Unmittelbarkeitsansprüche aufgehoben werden können und Entwicklungen nicht im Imaginären aufgehen. Moritz Senarclens de Grancy