In der Wissensgesellschaft wird der Anteil dessen, was wir nicht wissen, keineswegs kleiner. Zwar verdoppelt sich alle paar Jahre das Wissen der Bibliotheken, doch führt dies nicht in gleichem Maße dazu, dass der Einzelne mehr über sich selbst weiß. Über die Dinge, die uns selbst angehen – in Privatleben, Beruf oder Familie – verfügen wir zwar über ein umfassendes Wissen, dessen ungeachtet ist es keineswegs selbstverständlich, zu diesem Selbstwissen ein direktes Verhältnis zu haben.
Am ehesten wird dies am Beispiel der Wiederholung deutlich – also jenem Phänomen, bei dem bestimmte Situationen entgegen des Vorsatzes, sie fortan zu verhindern, dennoch eintreten. Hier scheint das Wollen machtlos – und auch das Wissen, wie es zu den Wiederholungen kommt, hat keinen Effekt. Man gelangt zu dem Schluss, dass es ein Wissen gibt, das höchstpersönlich und zugleich kaum zu handhaben ist.
Die Tücken der Wissensthematik zeigen sich auch daran, wie schwierig es ist, Veränderungen zu ermöglichen. Das Change-Thema ist in der Beratungsbranche auch deshalb so nachgefragt, weil es eben ungeheuer schwierig ist, etwas zu verändern. Offensichtlich liegt es nicht am fehlenden Willen daran, Dinge anders zu organisieren – es hat mit anderen Aspekten zu tun, die sich dem direkten Wissenszugriff fortwährend entziehen. Der Mensch lässt sich eben nicht wie ein Computer umprogrammieren, damit er andere Operationen ausführt.
Menschen sind keine Maschinen, auch wenn sie in Arbeitskontexten nicht selten wie Maschinen funktionieren sollen. Das Dilemma unserer Zeit liegt darin, dass wir über viel Wissen verfügen, aber in Einzelfällen außerstande sind zu entscheiden, welches Wissen uns hilft, im Leben weiterzukommen oder Krisen und Herausforderungen zu meistern. Man wünscht sich, es gäbe eine Position des Wissens, von der aus alles beherrschbar würde. Eine solche Position des Wissens läuft jedoch darauf hinaus, die Verantwortung für das Wissen aus den Händen zu geben.
Besser wäre es, individuelle Selbstkompetenzen - etwa Mechanismen der Reflexion - zu fördern. Dabei geht es weniger um Wissensakkumulation oder Wissensvermittlung, sondern um Selbsterfahrung und Eigenkompetenz. Der Einzelne verfügt meist über alles Wissenswertes, das erforderlich ist, um seine Situation zu verändern. Was indes häufig fehlt, ist jemand, dem er sich mitteilen kann, um dieses Wissen zur Sprache kommen lassen.
Das Wissen ist immer schon da; es geht darum, ein Gefühl dafür zu bekommen, wie mit ihm umzugehen ist. Dies war noch nie einfach. Die Komplexität in der heutigen Lebens- und Arbeitswelt befördert eine emotionale Vereinnahmung, die dazu tendiert, Entscheidungen nicht zu treffen, wo sie getroffen werden müssten. Neue subtile Abhängigkeiten führen mitunter zur Abspaltung und Verdrängung von Ich-Anteilen. Zu diesen Abhängigkeiten führen etwa rationalisierende Argumente, deren Überzeugungskraft sich auf die Evidenz von Statistiken, Studien und Evaluationen stützt. So interessant und sinnvoll Erhebungen dieser Art im einzelnen sein können, wird bei ihrer Betrachtung in der Regel nicht bedacht, dass sie eine Kultur des Quantitativen befördern, deren Logik sich vorrangig an einer Ethik des Sichtbaren und Messbaren ausrichtet.
Ergebnisse von Statistiken, Studien und Evaluationen dienen sofern nicht selten als Argumente, um Entscheidungen herbeizuführen, ohne dass zuvor der ernsthafte Versuch unternommen wurde, das beim Einzelnen oder in der Organisation selbst verfügbare Wissen zu befragen. Sie eignen sich perfekt dazu, dass sich Verantwortliche aus Angst vor echter Verantwortungsübernahme anhand von "Faktenwissen" absichern. Relevantes Wissen hat indes den Effekt, das es überrascht oder sogar vor den Kopf stößt. Dann ist es wirklich etwas Neues und kann eine reale Begegnung mit der Wirklichkeit ermöglichen. Der Kontakt zur Realität ist indes entscheidend, damit ein Individuum oder eine Gruppe die Notwendigkeit von Verantwortungsübernahme anerkennt.
Die Frage nach dem Ort des Wissens hat in der Entstehungsgeschichte von Psychoanalyse früh eine zentrale Rolle gespielt: Angeleitet durch seine Patientinnen (vgl. Freud 1895d) vollzog Freud einen Paradigmenwechsel in der traditionellen Erkenntnishaltung: Nicht der Arzt sollte wissen und dieses Wissen auf die Patienten anwenden, sondern - umgekehrt - sollte das symptomatische Wissen der Patienten zur Geltung kommen. Hieraus entwickelten sich als effektive Technik die freie Assoziation.
Was Freud also in die Psychiatrie seiner Zeit einbrachte, waren Sprache und Sprechen. In der psychoanalytischen Arbeit eröffnete dies den Raum zur Wahrnehmung jener Differenzen in der Rede der Analysanden, in denen das Unbewusste zutagetritt. Damit einhergehend dezentralisierte er den Ort, wo das Wissen zu suchen ist. Das Wissen des Freudschen Unbewussten kann überall sein, sofern die Rede an jeden Ort führen kann und von dort auch immer weiterführt. Der Umgang mit Wissen erweist sich sofern als ein Prozess, dem eine Gestaltungsaufgabe zugrundeliegt. Moritz Senarclens de Grancy
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