Vor allem in Krisenzeiten suchen Menschen nach einer Person, die sie führt. Sie unterstellen Führern die Macht, Auswege aus schwierigen Lagen zu finden. Doch was macht eigentlich gute Führung aus?
Für den verstorbenen Alt-Bundeskanzler Helmut Schmidt gehörte zu guter Führung mutiges Handeln dazu. Bei der Hamburger Sturmflut von 1976 trug er als Innensenator und Krisenmanager dazu bei, die Folgeschäden der Umweltkatastrophe einzudämmen. In einem Interview sagte er, sein Verantwortungsgefühl gebiete es ihm, nicht darauf zu warten, dass ihm jemand sage, was zu tun sei, sondern selbst zu handeln.
In der aktuellen Flüchtlingskrise richtet sich derweil Kritik gegen das Krisenmanagement der Regierung Merkel. Während viele Länder, wie Österreich, Polen oder Ungarn, keine Flüchtlinge mehr aufnehmen wollen, hadern auch zunehmend mehr Deutsche mit der liberalen Flüchtlingspolitik der Bundeskanzlerin. So fragte Henryk M. Broder kürzlich in der Welt: “Was will Angela Merkel?”
Broder bezieht sich in seinem Artikel explizit auf Freuds angeblich letztes “Rätsel”, das sich ihm am Ende seines Schaffens stellte: "Die große Frage, die nie beantwortet ist und die ich trotz meiner 30-jährigen Erforschung der weiblichen Seele noch nicht habe beantworten können, ist: Was will das Weib?” Broder kann auch bei Bundeskanzlerin Merkel nicht erkennen, wohin mit ihr die Reise in der Flüchtlingsdebatte geht.
Zunächst zum Freud-Zitat, das zwar nicht belegt ist, ungeachtet dessen aber häufig genannt wird. Freud stellt hier die Frage nach dem Begehren der Frau und setzt voraus, dass sich die Sexualität von Jungen und Mädchen unterschiedlich entwickelt. Insbesondere die Wahrnehmung des biologischen Unterschieds führe trotz gleicher Organisation bei Mädchen zum sog. Penisneid und bei Jungen zur Kastrationsangst.
Freuds Konstruktion der Geschlechterpositionen aus den Schriften Untergang des Ödipuskomplexes und Einige psychische Folgen des anatomischen Geschlechtsunterschieds aus den Jahren 1924 und 1925 läuft auf ein strukturales Konzept hinaus, das die Elemente Fantasie, Symbolik und Reales miteinbezieht. Schematisch gesprochen lernt der Junge unter der väterlichen Kastrationsandrohung das Inzest-Tabu kennen. In der Folge gibt er die Mutter als Liebesobjekt auf und solidarisiert sich mit dem Vater auf der Ebene des Über-Ichs - also im Feld von Moral und Gesetz.
Diese Entwicklung hat auch das Mädchen zu durchlaufen. Was Freud zufolge bei ihm erschwerend hinzutritt, ist die Notwendigkeit, das Objekt zu wechseln - also von der Frau zum Mann überzugehen. Auch bei gelungener Identifikation mit der Über-Ich-Ebene des Vaters als Repräsentanz der gemeinschaftlichen Ordnung ist die Notwendigkeit, die Mutter aufzugeben, nicht ganz einzusehen, ist das Mädchen vom Inzest-Tabu doch gar nicht betroffen.
Diese Prozesse erhalten universale Relevanz, wenn man bereit ist, Psychoanalyse nicht nur als klinische Theorie aufzufassen, sondern als kulturtheoretisches Konzept. Vater und Mutter sind dann nicht nur auf ihre Funktionen für die psychische Entwicklung von Kindern festgelegt, sondern strukturieren die Fantasien des heranwachsenden Inividuums bezüglich dessen, was es als lust- oder unlustvoll erlebt.
Das vollzieht sich zwangsläufig immer im Zeichensystem der kulturellen Symbolsprache, weshalb es bei Freuds metapsychologischen Überlegungen gar nicht so sehr um konkrete Individuationsprozesse geht. Denn die Existenz des Menschen ist von Anfang an am Anderen ausgerichtet, der ihn zunächst das Kleinkind versorgt, es dann nach den sozialen Regeln und Sitten erzieht, fortan den erwachsenen Menschen als soziales Wesen - als Mitglied einer Gemeinschaft - anerkennt und seiner nach dem Ableben gedenkt.
Die Fantasiebegabung des Menschen bringt es überdies mit sich, dass er im Anderen tendenziell auch immer etwas anderes sieht, als dieser tatsächlich ist. Er projiziert seine unbewussten Fantasien auf den anderen, ein Vorgang, der es ihm zumal erlaubt, eigene Erfahrungen des Mangels (wer hat sie nicht?) zu kompensieren. Tendenziell existiert der Nebenmensch also als ein Anderer, der in den unbewussten Fantasien des Subjekts auseinandergerissen und - dem eigenen Begehren folgend - neu zusammengesetzt wird.
Im idealisierten Bild des Führers vereint die Imagination dann wieder Vorstellungen von Stärke und Kompetenz zu einer glorifizierbaren Entität. Dass Frauen oftmals weniger Führungsqualitäten zugeschrieben werden als Männern, hat seinen Grund somit auch in den verinnerlichten Fantasievorstellungen, die Männer von Frauen haben. Wenn die Anerkennung der Kastration bei Jungen als initialer Kontakt mit der Realität gelten kann, in dem Fantasie, Symbolik und das Reale auf den Punkt zusammentreffen, trägt die Art und Weise des Verlaufs dieser Anerkennung fortan auch zum Charakter des Verhältnisses zu Frauen bei.
Kurzum: Je nachdem, wie diese Lernprozesse verlaufen, beeinflussen sie die Haltung von Männern gegenüber Frauen bzw. allgemein der Geschlechter zueinander. Die Frage von Henryk M. Broder, was "die" Frau bzw. Bundeskanzlerin Merkel will, sollte insofern als eine Einladung zur Fortsetzung eines gemeinsamen Lernprozesses aufgegriffen werden - und nicht als Ausdruck der Irritation gegenüber einem immer schon als undurchsichtig wahrgenommenen Anderen, von dem schlimmstenfalls Ungeheuerliches zu erwarten ist. Moritz Senarclens de Grancy
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