Die Zukunft der Psychoanalyse hängt davon ab, inwieweit sie ein ähnliches Interesse für gesellschaftliche Fragen entwickeln kann, wie es der ersten Generation der Psychoanalytiker gelang.

(A. Mitscherlich)

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Es gibt immer was zu tun. Freud als Comic-Held von Felipe Sobrero und Juan Arteaga
Es gibt immer was zu tun. Freud als Comic-Held von Felipe Sobrero und Juan Arteaga

Es ist inzwischen etwas in Vergessenheit geraten, dass Psychoanalytiker und Psychoanalytikerinnen früher in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens mitmischten. Sie schrieben und sprachen öffentlich über neue Formen von Vatermord, Mutterinzest und das ganze sonstige Unbehagen in der Kultur, erhielten für ihr öffentliches Engagement sogar Anerkennungen wie etwa einstmals Mitscherlichs Alexander den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Dabei unterschieden sich ihre Beiträge von anderen darin, dass sie Zusammenhänge herleiten konnten, wie es nur das psychoanalytische Denken vermag.


Psychoanalytisches Denken wird an Unis oder Schulen kaum vermittelt. Das liegt auch daran, dass es gar nicht so leicht ist, Psychoanalyse zu lehren. Das psychoanalytische Handwerkzeugs erfordert interdisziplinäre und autodidaktische Studien. Gemeint sind Textstudien, ferner Offenheit und Neugier für das Leben. Solch ein Programm lässt sich schlechterdings formalisieren.


Es liegt insofern im Wesen des psychoanalytischen Interesses, dass es nicht einem einzigen Fachbereich zugeordnet werden kann. Psychoanalytikerinnen lesen, forschen, beobachten, sprechen und schreiben. Auf eine kluge und innovative Weise suchen sie Wege zum Unbewussten ihrer Klienten sowie zu den unbewussten Dynamiken kultureller Phänomene. Hierfür befassen sie sich mit der Philosophie, mit Linguistik, Anthropologie, Archäologie, Kunstgeschichte und mit Literatur. 

 

Psychoanalytisches Denken ist ein genuin interdisziplinäres Unterfangen. Mit Psychologie hat es nur hier und da zu tun. Gegenstand ist die Suche nach der Wahrheit über die Psyche, also über das Seelische. Damit füllt sie eine immense Forschungslücke aus, sofern der Begriff des Seelischen von keiner anderen wissenschaftlichen Fachdisziplin beansprucht wird.  Warum eigentlich nicht?

 

Die Neurowissenschaft - angeblich Retterin der Psychoanalyse - spricht vom Geist und untersucht das im Kopf gelegene Hirn. Vorteil: In der MRT-Röhre kann man es dort ganz gut sehen. Während dessen kann kaum jemand sagen, wo eigentlich die Seele liegt. Auch Freud wusste das nicht genau. Die jüdische Kulturgeschichte verortet die Seele im Grunde überall. Solche Aussichten stehen diametral zum Erkenntnisideal der modernen Naturwissenschaften. 

 

Für das Freudsche Unbewusste spielt es jedoch gar keine Rolle, wo der Sitz der Seele ist. Psychoanalytiker untersuchen seelische Phänomene anhand mittelbarer Effekte, in denen sich die Funktionsweise des Seelischen manifestiert: Im Symptom, in der Fantasie, im Traum, in Fehlleistungen, in der Kunst, in Affekten, insbesondere in der Sprache und in der Art und Weise, von ihr Gebrauch zu machen.

 

In Freuds Schriften lässt sich derweil vielfach nachvollziehen, dass es ein Wissen gibt, das nur erfahrbar ist - nicht so sehr auf der Grundlage, sondern - im differenten Wechselspiel mit einem anderen Wissen. Erst in Differenzen, Einschnitten und Brüchen kommen wir dem Kern einer Sache näher.


In Talk Shows werden indes häufig Statistiken und Rankings bemüht, um anhand von "Fakten" Grundlagen für Entscheidungen und Maßnahmen etwa in der Flüchtlingsdebatte zu schaffen. Das TV-Bildungsbürgertum glaubt, dass nur Objektivität der Vernunft zum Sieg verhilft. Unruhe kommt auf, wenn sich herausstellt, dass das Haus, dessen Herr man zu sein glaubt, plötzlich von Fremden beansprucht wird.

 

Der Abgasskandal bei Volkswagen hat offenbart, dass ein Autokonzern ungeachtet seines jahrelangen Engagements für Umwelt und Naturschutz nicht davor gefeit ist, eine zweite, umweltschädigende Identität zu haben. Bei Menschen würde man vielleicht von einer Persönlichkeitsspaltung sprechen. Wer war eigentlich Herr im Hause VW?

 

Die viel gepriesene Ich-Stärke des Menschen steht nur zu oft im Dienst von Rationalisierungen und anderen Abwehrmaßnahmen. Daher sollten wieder mehr psychoanalytisch Tätige auf die aktuellen Themen und Diskussionen Bezug nehmen. Die möglichen Themen sind genauso vielseitig wie die Deformationen der Subjekte in unserer Gesellschaft. Längst angefragt ist zudem eine Psychoanalyse Russlands von Alexander Etkind und eine psychoanalytische Medienkritik von Manfred RiepeMoritz Senarclens de Grancy  

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Susanne (Sonntag, 29 November 2015 17:54)

    Danke für Ihre wichtigen Beiträge! Sowas wie Ihren Blog brauchen wir wieder ganz dringend! LG