Was ist ein psychoanalytischer Essay?
Der Essay an sich hat keine Meinung, sondern eine Haltung. Keine These, sondern Thesen. Er ermöglicht verschiedene Ausgänge des Denkens. Ein Essay traut sich, Dinge anzusprechen, die im politischen oder gesellschaftlichen Raum nicht gesagt werden können. Er bemüht sich um die Entfaltung eines Gedankens auf eine stilistisch elegante Weise und lässt Lesern die Freiheit, sich zu entscheiden.
Der Essay ist eine Reflexionsgattung, die ein literarisches Selbstverständnis beinhaltet. Damit steht der Essay zwischen Wissenschaft und Kunst. Berühmte Essays sind zum Beispiel Ernst Jandls Projekt einer "heruntergekommenen Sprache" nach 1945; Sigmund Freuds Der Mann Moses und die monotheistische Religion (1939) oder Michel de Montaignes Reflexionen über den Tod aus dem späten 16. Jahrhundert.
Der psychoanalytische Essay steht in der Tradition der Stilistik Sigmund Freuds. Er kann von Details oder Nebensächlichkeiten ausgehen oder im Peirce'schen Sinne eine Hypothese zum Ausgangspunkt weiterführender Theoriebildungen machen. Im Fokus des psychoanalytischen Essays kann ein Epochenwechsel wie die Coronapandemie oder der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine stehen. Nicht zuletzt greift er auf Freud'sche oder andere psychoanalytische Konzepte und Denkfiguren zurück, um seine Argumente zu schärfen.
Allerdings liegt die Stärke des psychoanalytischen Argumentierens durchaus in einer gewissen Unschärfe. Freud notiert im Jenseits des Lustprinzips (1920g), dass es vorläufig besser sei, sich über gewisse Verhältnisse unbestimmt zu äußern und zunächst lediglich einen "gewissen Zusammenhang" herzustellen. (1920g, S. 26) Zur "Unbestimmtheit" seiner Erörterungen schreibt Freud: "So operieren wir also stets mit einem großen X..." (ebd., S. 30 f.). Freud argumentiert mithin gegen das "affektive Moment der Überzeugung". (Ebd., S. 64)
Freud gilt als brillianter Denker, dessen Theoriekunst die Leserschaft fasziniert wie das Werk eines gefeierten Romanciers. Tatsächlich wird Freud das stilistische Talent der besten Schriftsteller zugesprochen, ungeachtet dessen ihm jene ungeteilte Hochachtung und Verehrung, welche berühmten Autoren wie Thomas Mann, Hermann Hesse, Stefan Zweig oder Arthur Schnitzler vom Publikum zu Lebzeiten entgegengebracht wurde, selbst post mortem verwehrt wurde. Das mag daran liegen, dass sich im Denken nicht weniger Menschen schlechterdings vereinbaren läßt, wie jemand schriftstellerisch und wissenschaftlich zugleich arbeiten kann. Der Gedanke, dass gute Literatur entdecken will und gute Wissenschaft prosaisch sein kann, mag nicht zwanglos überzeugen.
In den Studien über Hysterie (1895d) moniert Freud die Form seiner Krankengeschichten, die wie „Novellen“ zu lesen seien und des „ernsten Gepräges der Wissenschaftlichkeit entbehren“ (Freud 1895d, S. 227). Die Verwunderung in dieser Äußerung wurde von Walter Muschg als Abwehr „gegen eine Unterschiebung dichterischer Ambitionen“ (Muschg 1975, S. 11) interpretiert. Aus anderen Quellen ist zu entnehmen, dass Freud tatsächlich den Wunsch hegte, Romanautor zu werden. Mahony erinnert an ein wenig bekanntes Geständnis Freuds seinem Kollegen Stekel gegenüber: „Wir wanderten in den Wäldern in der Nähe von Berchtesgaden, als Freud mir erzählte: ‚In meinem Kopf entwerfe ich ständig Romane und verwende dabei meine Erfahrungen als Psychoanalytiker. Ich möchte gern ein Romanautor werden. Aber nicht jetzt, vielleicht später im Leben‘“ (Gay 2006, S. XIII f.). Auch der Freud-Biograph Fritz Wittels berichtet, Freud habe durchaus offen erklärt, er wolle ein „Romanschriftsteller“ werden, um die Geschichten seiner Patienten für die Nachwelt zu erhalten. (Wittels 1924, S. 13)
Dass Freud auch über eine streng begriffliche Fachsprache verfügte, hatte er in zahlreichen neurologischen und biologischen Fachpublikationen unter Beweis gestellt. Ähnlich fachsprachenbasiert hätte er auch über Elisabeth v. R. und die anderen Patientinnen aus den Studien schreiben können. Der Unterschied zu den Arbeiten etwa über die Aphasie oder über Nervenfasern bei Aalen ist jedoch, dass in den Fallgeschichten menschliches Handeln im Vordergrund steht – häufig konfliktträchtige Handlungen wie das Ausbrechen aus Konventionen oder individuelles Scheitern. Im Unterschied zum medizinischen Fallbericht erlaubt die Novelle den Umgang mit Lücken und Brüchen, jenen Auslassungen des Nicht-Wissens, denen Freud in seiner Praxis begegnet.