Die Zukunft der Psychoanalyse hängt davon ab, inwieweit sie ein ähnliches Interesse für gesellschaftliche Fragen entwickeln kann, wie es der ersten Generation der Psychoanalytiker gelang.

(A. Mitscherlich)

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Das Objekt der Begierde

Die Sprache des Kunden lernt man im Gespräch. Im Kern geht es darum, sich eine Art von Wissen anzueignen, das sich nicht an den eigenen Bedürfnissen und Wünschen orientiert. Im Handel, aber auch in der psychoanalytischen Arbeit mit Klienten geht es um einen Zugang zu mehr oder weniger bewussten Wissensbeständen. Während Descartes die Gewissheit im einzelnen Individuum suchte, verortet sie die Psychoanalyse in der Polis, der Gemeinschaft zu zweien – Analytiker und Analysand. Die psychoanalytische Dyade bringt unter Befolgung der Grundregel des freien Einfalls ein Wissen hervor, das dem einzelnen Individuum auf der Suche nach Antworten verborgen bliebe. Dies erklärt auch die Relevanz von psychoanalytischen Ansätzen und Konzepten für die Arbeit mit Gruppen und in Organisationen.

 

Die Bedeutung der Sprache ergibt sich für die Psychoanalyse daraus, dass sich das Sprechen an einen Anderen richtet und über das Gesagte hinaus immer ein Mehr mitteilt. Das Denken ist sprachlich verfasst, heißt es bei Freud. Auch für die psychoanalytische Organisationsberatung stellt die zwischenmenschliche Kommunikation eine entscheidende Schnittstelle im Prozeßverlauf dar. (Bernhard Janta, „Was verändert die Veränderung“, in: Mathias Lohmer [Hg.] Psychodynamische Organisationsberatung, Stuttgart 2000, S. 200f.) Ungeachtet der technischen Durchdringung der Arbeitswelten im Kontext von „Industrie 4.0“ beanspruchen dennoch nicht Maschinen, sondern die Kommunikation zwischen Menschen die Schlüsselrolle für den Erfolg von Unternehmen und Verwaltungen. Abseits dieser soziologischen Thematik fokussiert die psychoanalytische Sicht das Ichverständnis der Organisationsmitglieder, ihre individuelle Motivation und Identifikationsbereitschaft mit Kollegen und Vorgesetzen, d.h. analytisch gesprochen ihre Beziehungen zu Objekten.

 

Was ist das Objekt in der Psychoanalyse? Es ist nicht das Objekt des Physikers oder ein Alltagsgegenstand, sondern das Objekt des Begehrens. Das Objekt in der Psychoanalyse zielt auf die Frage nach der Funktion, die ein Objekt für den Trieb hat. In Betracht kommen sofern Dinge als auch Menschen. Der Nebenmensch ist für den Trieb ein Objekt, das er besetzt und an dem er sich auf seine Weise erlebt und Befriedigung verschafft. Als eine Schule des Lesens (Lektüretechnik) weiß die Psychoanalyse ferner darum, dass das Objekt an den Signifikanten gebunden ist. Mit anderen Worten qualifiziert die Sprache das Objekt. Sie macht es hell oder dunkel, schön oder hässlich, stumpf oder scharf wie ein Messer. Kurzum: Der Logos lässt ein Objekt lustvoll oder unlustvoll erscheinen.

 

Zugleich ist die Beziehung zum Objekt imaginär, d.h. es ist Ziel oder Träger von Phantasien und Projektionen. Dementsprechend wird das Objekt in der Phantasie zugerichtet und verformt. Die (unbewusste) Phantasietätigkeit entscheidet, was zum Objekt gehören darf und was nicht. Schon Goethe reimte in einem Gedicht an Charlotte von Stein: "Uns zu lieben, ohn uns zu verstehen / in dem anderen zu sehen, was er nie war, / immer frisch auf Traumglück auszugehen".

Das Thema des Sexuellen bei Freud avisiert sofern die Grundannahme, dass das Subjekt qua Übertragung immer schon mit den Objekten verbunden ist. Eingedenk dieser Dynamiken wird zumal auch deutlich, wie wichtig eine zutreffende Unterscheidung von Innen und Außen für die Urteilsfindung ist.

 

Um die Sprache des anderen zu verstehen, begnügt sich die Psychoanalyse nicht mit Rationalisierungen. Sie fragt nach der Geschichte einer Objektbeziehung und hört hierzu auf das Subjekt des Sprechens. Sie räumt dem Widersinnigen und Nebensächlichen epistemologisches Potential ein und lässt auch den Unsinn zu Ehren kommen. Sie rechnet mit multiplen Ursachen und macht nicht bei einem einmal geformten Wissen halt, sondern arbeitet weiter. Nur so lässt sich ein Wissen konstruieren, das möglichst nah am Ort der Wahrheit liegt.

 

Diese Art der Arbeit am Wissen befreit die Beziehung zum Objekt und zum anderen, indem sich das Subjekt von vorgefassten Illusionen löst. Vorgefasstes Wissen, Vorurteile und Stereotypen können hinterfragt und aufgegeben werden. Das lange Zeit geglaubte Wissen erweist sich nun als roh und unverdaut. Psychoanalytisches Arbeiten, insbesondere das sog. Durcharbeiten, kann sofern mit der auflösenden Wirkung von Enzymen im Verdauungsvorgang verglichen werden: Das seelisch-gedanklich Unverdaute wird nachträglich verdaut und verträglicher gemacht.

 

Der Andere ist natürlich nicht nur Objekt der Triebe eines Subjekts, er ist auch selbst Subjekt. Die Beziehung zwischen Subjekten – seien es nun Verwandte, Bekannte oder Kollegen in einer Organisation – lässt sich umgangssprachlich mit Vokabeln wie Sympathie oder Antipathie, Achtung oder Verachtung, Liebe oder Hass bezeichnen. Damit wird die äußere, soziale Beziehung unter Menschen beschrieben. Die psychoanalytische Sicht interessiert sich derweil für die Rolle der Triebe bei der Ausgestaltung der Objektwahl. Triebe besetzen ein Objekt, ein Subjekt kennen sie jedoch nicht. Sie kennen auch kein Achtungsverhältnis, sie sind nicht moralisch.

 

An diesem Punkt wird ersichtlich, warum zwischenmenschliche Beziehungen selbst in kulturell entwickelten Beziehungskonstellationen wie Familien oder Unternehmen so häufig zu Konflikten führen. Triebe treiben ihr Unwesen jenseits der Vernunft; sie fordern eine Art der Befriedigung ein, die mit den kulturellen Regeln konfligieren. Partialtriebe fordern ein unmögliches Genießen ein, das sich von den erlaubten Formen des Genießens in einer Gesellschaft ausgrenzt. Weil dies so regelmäßig geschieht, geht die Psychoanalyse davon aus, dass etwa Perversionen Teil des normalen Lebens sind.

 

Eine Perversion kann ein Subjekt beispielsweise dazu führen, sein Genießen ausschließlich oral, d.h. über die Mundschleimhaut zu organisieren – konkret durch Mund, Rachen und Zunge, aber auch verbal anhand eines dementsprechend spezifischen Gebrauchs der Sprache. Neben der oralen Fixierung gibt es weitere Fixierungen der Libido. In der Schrift Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1905) führte Freud die Sexualität aus der konventionellen Auffassung der Biologie des 19. Jahrhunderts heraus, wonach sich deren Funktion in der Fortpflanzung der Menschheit erschöpfe. Das Kinderkriegen erscheint hier als ein mehr oder weniger zufälliger Effekt eines komplexen Triebgeschehens.

 

Aus der konformistischen Idealwelt marktwirtschaftlicher Austauschbeziehungen wird das Wirken der Triebe im allgemeinen ausgeklammert. Hier herrschen klare Grenzen des Genießens, die sich in Verhaltenskodices niederschlagen. Die Frage nach der Sprache des Kunden erfragt die Bedingungen, um dem Kunden zu gefallen, indem man sich ihm annähert bzw. ähnlich macht. Es geht ums Gefallen. Und dennoch drängen auch hier unentwegt die Partialtriebe. Ein Beispiel: Das Werbevideo einer Handelskette suggeriert, Handel sei „supergeil“. Ein Ausdruck mit unverhohlener sexueller Konnotation. In dem Video wird lustvoll gegessen, getrunken, gebadet – Crèmes und Toilettenpapier tauchen auf. Kauen, Schlucken, Berühren und weitere lustvolle Praxen werden verführerisch inszeniert.

 

Weil die Triebe allgegenwärtig sind, sah es Freud als geboten an, über eine Grammatik der Triebe nachzudenken. Mit ihrer Hilfe erklärt die Psychoanalyse die vielfältigen Dynamiken des Triebgeschehens, deren Effekte sich alltäglich in den Beziehungen zwischen Individuen und in Gruppen niederschlagen. Beim Umgang mit dem, was wir von uns und voneinander zu wissen meinen, kann dieser entscheidende Faktor daher nicht außeracht gelassen werden. ‘Wissen’ ist aus psychoanalytischer Sicht untrennbar mit den Trieben und ihren Schicksalen verbunden. MSG