Die Zukunft der Psychoanalyse hängt davon ab, inwieweit sie ein ähnliches Interesse für gesellschaftliche Fragen entwickeln kann, wie es der ersten Generation der Psychoanalytiker gelang.

(A. Mitscherlich)

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Die Formung des Menschen durch Text

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Der Text ist immer schon da. Zeitraum Installation Medienkunst Wien Bild MSG

Psychoanalyse begann als Traumatheorie, die sich um ein Verständnis von Erinnerungen mit pathogener Qualität bemühte. Bei der Suche nach den traumatisierenden Ursachen wurde dann deutlich, dass Erinnerungen im Gedächtnis umgearbeitet, das heißt verschoben, verdichtet, ins Gegenteil verkehrt, falsch verknüpft oder völlig verdrängt wurden. Die Entdeckung der Übertragung erbrachte dann die Einsicht, dass es ein Wissen gibt, das erst durch Wiederholen im sozialen Kontakt mit einem Anderen erfahrbar wird.

 

Infolge verlor die lebensgeschichtlich-individuelle Erinnerung für die analytische Arbeit ihre therapeutische Bedeutung, während der Austausch von Worten, das Erfassen der Sprache und ihres individuellen Gebrauchs in den Vordergrund rückte. Über die Sprache und das Sprechen, so die psychoanalytische Erfahrung, teilt sich nicht nur das bewusste Denken des Individuums mit, sondern immer auch sein Wirklichkeitserkennen. Dem Traumphänomen entnahm Freud, dass dieses Wirklichkeitserkennen nicht etwa der objektiven Realität geschuldet ist, sondern einem Begehren gehorcht, das sich aus Identifizierungen zusammensetzt.

 

Aus positivistischer Sicht muss diese Form des Wirklichkeitserkennens abwegig erscheinen, ungeachtet dessen es zu konkreten Urteilen führt. Dass Identität mit dem Ursprungsbild Ziel und Ende aller Denkvorgänge ist, behauptete Freud bereits im Entwurf und bezeichnete diesen Identifizierungswunsch als „Primärvorgang des Urteilens.“ Am Ende dieser gedanklichen Bewegung kommt ein Urteil zustande, das den Weg zu praktischem Handeln wieder freigibt. Wie sich diese Urteilsfunktion in der Hysterie ins Gegenteil, das heißt zu einem Widerstand verkehren kann, ist in den Krankengeschichten Freuds zu verfolgen, wo es den Patientinnen zunächst nicht möglich ist, ihre Symptome durch „Denkarbeit“ aufzulösen.

 

Zum Beispiel fixierte sich Elisabeths (Studien über Hysterie) hysterische Konversion infolge einer Berührung ihres schmerzenden Beins mit dem kranken Bein ihres Vaters, während dem Beinschmerz in Wahrheit doch die heimliche Liebe zum Schwager zugrunde lag. Diese Berührungsidentifikation funktionalisierte brückenartig Körper und Sprache und bewirkte die Symptomatik - unter Rückgriff auf allerlei Ausdrucksweisen und Redensarten, die mit Aufrechtstehen, Sitzen und Nicht-von-der-Stelle-kommen zu tun haben (1895d, S. 214 sowie 248). In der Epikrise benutzt Freud den Begriff der Symbolisierung im engeren Sinne der hysterischen Konversion, für deren Zustandekommen "Redensarten die Brücke bilden" (ebd., S. 244).

 

Eine zentrale Stelle in Bezug auf die spezifische Funktion von Sprache für Psychoanalyse, die sie im Hinblick auf die Entwicklung europäischer Episteme zum Sonderfall macht. Für Psychoanalyse sind Sprache und Sprechen - der Umgang mit Text - die zentralen Komponenten der symbolische Ordnung, die zugleich die komplexen und dynamischen kulturellen Rahmenbedingungen des Menschen konstituieren. Eine Konsequenz der Aufgabe der Verführungstheorie war es insofern auch, dass ein Text, also etwa die mitgeteilten Erinnerungen und Assoziationen in der analytischen Kur, nicht eins zu eins aufzufassen sind; vielmehr galten sie nunmehr als Kompromissbildungen und als Ergebnis einer komplexen unbewussten Umarbeitung, deren Übertragungswege erst rückgängig gemacht werden mussten, um den abgewehrten, ursprünglich weiteren Bedeutungszusammenhang zu erkennen.

 

Die Bereitschaft und die Fähigkeit, exakte Entsprechungsverhältnisse zwischen Zeichen und Bezeichnetem systematisch zu dekonstruieren, ist für das psychoanalytische Denken sofern ein grundlegender Vorgang. Erst so wurde der Blick für ein Erfassen des Unbewussten in Träumen, Witzen, Fehlleistungen und psychoneurotischen Symptomen freigelegt. Doch geht es tatsächlich um Dekonstruktion? Geht es nicht ebenso um Rekonstruktion beziehungsweise Konstruktion oder ist der Vorgang noch ein anderer? Fragen, die den Freudschen Umgang mit Text avisieren. Doch was war ein Text für den ersten Mann der Psychoanalyse? Dieser Aspekt scheint deshalb so zentral, weil es in Freuds Psychoanalyse – beginnend mit der Aphasie-Studie, dann unumkehrbar mit der Verankerung der Ödipus-Theorie und deren auf sprachlichen Transfer rekurrierenden Genealogie – immer und fortwährend um die Formung des Menschen durch Text geht.

 

Unsere von visuellen Botschaften geprägte Zeit mag dazu verleiten, die Bedeutung von Text als das Medium für Sprache und Lektüre, Gedächtnis und Selbstreflexion zu marginalisieren. Doch wenn es um den Umgang mit Text geht, ist größte Vorsicht geboten. Nicht nur ist Lesen und Schreiben das erste Schulfach; vor allem jedoch ist alles, was das Leben bestimmt, als Text verfasst. Texte sind für das Zusammenleben von Menschen zentral: Vereinbarungen, Compliance-Regeln, Gesetze, Verträge, Zeugnisse, Urkunden, Gebete, Biographien, Briefe, SMS - immer hat man es mit Text zu tun. 

 

Der Umgang mit Texten wird frühzeitig eingeübt, so dass er dem Einzelnen gleichsam in Fleisch und Blut übergeht. Selten fragt sich heute noch jemand, wer eigentlich für die Authentizität eines Textes bürgt? Und wie darüber bestimmt wird, wie ein Text auszulegen, also zu verstehen ist? Gibt es für jeden Text, wie etwa im juristischen Strafprozess, eine letztinstanzliche Interpretationshoheit? Und was hat dies in Hinblick auf den Umstand zu bedeuten, dass sich just Psychoanalyse des Textes als zentrales Erkenntnisinstrument bedient?

 

Der französische Psychoanalytiker Pierre Legendre (1981) findet hierfür drastische Formulierungen: „Im Gleichgewicht des Ganzen – in der sozialen und politischen Buchhaltung, der abendländischen Textarchitektur also – wirkt die Psychoanalyse wie eine Katastrophe, sie stellt eine Panne im Denksystem dar, die Wahrheit versagt ihren Dienst und alle Fiktionen müssen erneuert werden. Ein prominenter Christ hat einmal gesagt, die Psychoanalyse sei Teufelszeug. Mit mehr scholastischer Exaktheit könnte man es gar nicht ausdrücken.“

 

In einem umfassenderen Rahmen scheint es die römisch-christliche Tradition und ihr hierarchisch-gläubiges Verhältnis zum Text zu sein, von der die Psychoanalyse „einkassiert“ zu werden droht. Im Christentum kommt nicht nur der Heilige Geist vom Himmel herab, auch der Text erhält seine Bestimmung von ganz oben. Kurzum: Die Autorität bestimmt, was ein Text zu besagen hat. Ganz anders dagegen das Judentum, wo der Text als Autorität gilt. Ebendiese Haltung zum Text erwacht zu neuer Diskursmacht im Dispositiv der Psychoanalyse Freuds: "Kurz, was nach der Meinung der Autoren eine willkürliche Improvisation sein soll, das haben wir behandelt wie einen heiligen Text" (1900a, S. 518. Kursiv. MSG) - gemeint ist der Traumtext.

 

Da also auch die Inhalte von Träumen, Vorstellungen, Phantasien und inneren Bildern nicht ausschließlich, aber häufig über Sprache und Sprechen offenbar werden, bewirkte Freuds Seitenwechsel von der Medizin zur Psychologie zwangsläufig den Eintritt in das sprachliche Paradigma, woraufhin aus medizinischer Sicht das Symptom zur Metapher wurde (Senarclens de Grancy 2015), sofern etwa die Körperstörungen der Hysteriker, ihre Lähmungen, Sprachstörungen und Zuckungen, von Freud fortan als Ausdrucksformen der Psyche mit den Mitteln der Physis untersucht werden konnten.

 

Eine psychoanalytische Ethik muss daher in entscheidendem Maß dem Freudschen Umgang mit Text verpflichtet sein. Hieraus resultiert nicht zuletzt die Notwendigkeit wiederholter Lektüren der Schriften Freuds, in denen dieser spezifische Umgang mit Text in exklusiver Weise erfahrbar und nachvollziehbar wird. Moritz Senarclens de Grancy

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