Die Zukunft der Psychoanalyse hängt davon ab, inwieweit sie ein ähnliches Interesse für gesellschaftliche Fragen entwickeln kann, wie es der ersten Generation der Psychoanalytiker gelang.

(A. Mitscherlich)

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Phantasma und Organisation

Erst das Bild schafft die Befriedigung. Der gesetzlich vorgeschriebene Hinweis "Serviervorschlag" auf Dosen, hier eiskalt abgewandelt. Idee Karl-Josef Pazzini
Erst das Bild schafft die Befriedigung. Der gesetzlich vorgeschriebene Hinweis "Serviervorschlag" auf Dosen, hier eiskalt abgewandelt. Idee Karl-Josef Pazzini

In der Psychoanalyse wird zwischen äußerer und innerpsychischer Realität unterschieden. Letztere führte Freud auf frühe Interaktionserfahrungen zurück. Sie zeigen sich in Form von Selbst- und Objektimagines, d.h. Vorstellungen, die die Selbst- und Fremdwahrnehmung geprägt haben. Doch in welchem Verhältnis steht das Bild zur Sprache?

 

Das Wechselspiel von Phantasie und Sprache im seelischen Geschehen thematisiert Freud in der Traumdeutung (1900a). Von den nächtlichen Traumphantasien erinnern wir zwar vorrangig Bildhaftes, doch werden diese Bilder ausschließlich in Form von Text mitgeteilt. Freud rät seinen Lesern derweil, dem Traumtext zu misstrauen, weil an ihm Manipulationen stattgefunden haben: Im vierten Abschnitt (Die Traumentstellung) begründet Freud die Fremdartigkeit der Träume damit, dass an dem Ausdruck seines Sinns Entstellungen vorgenommen wurden.

 

Um diese Sicht zu erläutern, führt Freud die Unterscheidung zwischen manifestem Trauminhalt und latenten Traumgedanken ein, wobei die Traumgedanken durch die Deutungsarbeit gewonnen werden. Im fünften Kapitel der Traumdeutung geht Freud der Frage nach, woher Träume ihr Material beziehen (rezente Eindrücke, Nebensächliches, Kindheitserinnerungen – das Traumgedächtnis), um dann im sechsten Kapitel (Die Traumarbeit) zur zentralen Frage vorzustoßen, auf welchen Wegen die Entstellungen des Traums zustandekommen.

 

Auf diesen 230 Seiten der Traumdeutung, könnte man sagen, findet die eigentliche Revolution statt. Denn während Freud die äußerst wichtige Methode der Traumdeutung (zweites Kapitel) vorstellt, geht es ihm erst im sechsten Kapitel um die Darstellung eines psychologischen Prozesses, „dessen gleichen in der Psychologie bisher nicht bekannt war“ (Freud 1913j, S. 397).

 

Dieser Prozess gibt Aufschluss über die Art, wie die Psyche mit Vorstellungsinhalten umgeht, nämlich im wesentlichen nach den beiden Vorgängen der Verdichtung und (Akzent)Verschiebung. Diese Vorgänge stehen Freud zufolge im Dienst einer Zensur, die als Gegenspieler zum Traumwunsch wirkt. (Freud 1900a, S. 148f.) Aus der Systematik der Traumarbeit ergibt sich notwendigerweise die Annahme einer unbewussten psychischen Tätigkeit, welche Freud bekanntlich als umfassender und bedeutsamer einschätzt als die des Bewusstseins. (Vgl. ebd. S. 149f.)

 

Anhand dieser unbewussten psychischen Tätigkeit organisiert der Traum einen Ausgleich zwischen den Wunschphantasien und den einschränkenden Forderungen der Realität. Idealerweise erreicht der Traum dadurch das Ziel, den Schlaf vor störenden Einflüssen innerer sowie äußerer Art zu schützen. Zugleich lässt sich in diesem Vorgang indes auch eine Dialektik von Bild und Sprache erkennen, die höchst aufschlussreich ist für das Verstehen des Menschen.

 

Danach sind es Bilder und Phantasien, die primäre Befriedigung verschaffen, Urbilder wie bei den Paradieserzählungen, nicht selten aber auch Illusionen über Entscheidungen, Chancen, Begegnungen und sonstige Wünsche, für die es in der Realität keine Darstellung gegeben hat. Letzteres ist ein häufiges Phänomen, es taucht beispielsweise in der Rede auf, wenn jemand sagt: "Wenn dies oder jenes nicht wäre, dann..."

 

Anhand Lacans Konzept des Phantasmas lässt sich zeigen, wie Phantasiewelten das Individuum tendenziell darauf beschränken, Ausdrucksformen für ein verhindertes Genießen zu produzieren. Die wiederkehrenden Einbildungen verlangen vom Individuum nämlich keine Entscheidung für ein konkretes Objekt mit der Ungewissheit zukünftiger Befriedigungsmöglichkeiten. Anders gesagt konserviert das Phantasma die Angst vor dem Phallus und einer sexuellen Beziehung, welche voraussetzen würde, sich in einem strukturalen Sinne als Phallusträger zu akzeptieren.

 

Das individuelle Phantasma wie auch die Phantasmen in Gesellungen, Organisationen und Gemeinschaften ist ein an frühen Befriedigungen fixierter Einschluss. Diese Form des Genießens bietet zwar Schutz vor Enttäuschung und Objektverlust, schirmt zugleich jedoch vom Realen ab. Der individuellen wie auch organisationalen Entwicklungsfähigkeit ist durch das Phantasma und seinen Zwängen ein Riegel vorgeschoben. Erst in der Distanz zum Phantasma wird Freiheit eine psychisch erlebbare Realität.

 

In der psychoanalytischen Arbeit geht es insofern auch darum, aus den Spuren des Phantasmas Objektivität zu produzieren. Doch wie wird aus Einbildung Bildung, wie aus Phantasmagorie Selbstentdeckung? Etwa indem die Einbildungen im Sprechen aufgegriffen und erkennbar gemacht werden. Mit Blick auf das, was oben über den Traum gesagt wurde, geht es sofern darum, ein Aufwachen zu ermöglichen und für den Text, den das Phantasma liefert, neue Übersetzungen zu finden.

 

Hierzu gehört auch Erinnerungsarbeit, sofern Vorstellungen dem Gedächtnis angehören, als sie, wie Freud betonte, in von Erinnerungen besetzte Teile auflösbar sind, in Worte und Sachen bzw. in „Wort-Dinge“, die durch das Begehren verstärkt oder mobilisiert werden. Demnach sind es just die Worte, die die innere und die äußere Seite der menschlichen Wahrnehmungsrealität verknüpfen. Wenn bei einem Menschen von Realitätsverlust die Rede ist, kann sofern von einem Übersetzungsfehler ausgegangen werden, in dessen Folge der Bezug zur Objektivität leidet.

 

Der Einsatz psychoanalytischer Ansätze und Techniken unterstützt dabei, die Undurchsichtigkeit psychodynamischer Phänomene zu beheben - ganz gleich ob Phantasma, Symptom, Traum, Wiederholung oder andere. Überdies werden sie jener Ambivalenz gerecht, die Objekte für unser Genießen haben, und reflektieren die Täuschungen des Unbewussten bezüglich unserer realen Ziele und Wünsche. Nicht zuletzt erinnert psychoanalytisches Arbeiten daran, dass das Sprechen nicht in der Funktion von Kommunikation aufgeht. MSG

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