Die Zukunft der Psychoanalyse hängt davon ab, inwieweit sie ein ähnliches Interesse für gesellschaftliche Fragen entwickeln kann, wie es der ersten Generation der Psychoanalytiker gelang.

(A. Mitscherlich)

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Verbotene Früchte – Psychoanalyse als Gesellschaftsdiskurs

Der Apfel steht symbolisch für den verbotenen Wunsch nach Erkenntnis und die Verführung zum Wissen. Nicht ohne Grund hat ein kalifornischer PC-Hersteller ihn zu seinem Markenlogo gemacht. Bild flickr
Der Apfel steht symbolisch für den verbotenen Wunsch nach Erkenntnis und die Verführung zum Wissen. Nicht ohne Grund hat ein kalifornischer PC-Hersteller ihn zu seinem Markenlogo gemacht. Bild flickr

Warum die Psychoanalyse außerhalb des psychotherapeutischen Felds – etwa in Gesellschaftsfragen – zur Anwendung bringen? Weil die psychoanalytische Herangehensweise das Wissen von den Rändern hereinholt.  Im Zeitalter der Visualisierung der Kommunikation hält die psychoanalytische Sicht an der Sprachlichkeit des Denkens fest. Ihre Aktualität resultiert sofern aus den Mitteilungen der Menschen, die sie – wo auch immer – zum Sprechen bringt. Insofern verspricht sie, das Wissen möglichst nah an den Ort der Wahrheit zu führen.

 

Unter Psychoanalytikern ist die universelle Anwendbarkeit der Psychoanalyse im Grunde unumstritten. Dessen ungeachtet wird eher zurückhaltend von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht. Publizierende Analytikerinnen und Analytiker beschränken sich häufig auf Fragen der Klinik oder reflektieren metapsychologische Fragestellungen, anstatt sich in den öffentlichen Diskurs einzuschalten. Das ist legitim, hat indes dazu geführt, dass die Stimme der Psychoanalyse in den Gesellschaftsdebatten nahezu verstummt ist.

 

Es gibt aber auch Ausnahmen. Mit Blick auf die Finanzkrise erschien vor einem Jahr das Buch Au cœur de l’économie, l’inconscient des Pariser Psychoanalytikers René Major. Vor dem Hintergrund der „Weltwirtschaftskrise“ untersucht die Studie Bezüge zur Triebtheorie und fragt, inwieweit sich Entwicklungen in Politik und Wirtschaft mit Blick auf die Rolle von Partialtrieben erhellen lassen. Die Hauptthese des Buchs: Die Fehlentwicklungen im Ultraliberalismus basieren auf Übertragungen – etwa auf dem guten Glauben an das Bankensystem.

 

Das Wort Ökonomie setzt sich bekanntlich aus den griechischen Worten für Haus (oikos) und Gesetz (nomos) zusammen. Zu Deutsch: Regeln für den Hausgebrauch. Doch bestimmen Regeln nicht nur das Leben in einer Hausgemeinschaft, sondern ebenso das Miteinander von Menschen in Gruppen, Organisationen, Städten und Staaten. Wirklich alle Lebensbereiche werden von Regeln berührt, seien es demokratische Gesetze, uralte Traditionen, langgehegte Gewohnheiten oder informelle Vereinbarungen unter Kollegen, aber auch das Verhalten zwischen den Geschlechtern.


Unter „Wirtschaft“ verstehen wir oftmals nur die Abläufe in Betrieben, Banken und Märkten. Diese Sichtweise ist ergänzungsbedürftig. Denn Wirtschaft ist nicht nur dort, wo Menschen miteinander ins Gespräch kommen, um Waren oder Dienstleistungen gegen Geld einzutauschen, sondern auch da, wo sie etwa für ihre Kinder Privatschulen bezahlen, um deren Aufstiegschancen zu verbessern. Oder wo Kunst als Investment gehandelt wird. Oder beim Bahnstreik. Seit jeher gibt es den Schuldenerlass auch außerhalb einer Marktbeziehung nämlich beim christlichen Bußsakrament der Beichte. Im Mittelpunkt der Wirtschaft stehen zumal Affekte wie Glücksstreben, Macht, Ehrgeiz oder Gier – also die psychische Ökonomie eines jeden von uns.

 

Wenn Impulse wie Macht, Grausamkeit und Tod im Treiben der Weltwirtschaft eine Rolle spielen, muss uns die libidinöse Seite an unserem Wirtschaftssystem interessieren. Genau diesen Ansatz verfolgt René Majors Buch. Die Motive für wirtschaftliches Handeln, das merkwürdige Phänomen sich wiederholender Krisen und insbesondere das Verhältnis zum Geld stellen mögliche Anknüpfungspunkte dar, die unter Zuhilfenahme der Werkzeuge der Psychoanalyse einer weiteren Klärung zugeführt werden können. Mit dem kürzlich bei dem Anschlag auf Charlie Hebdo verstorbenen Wirtschaftswissenschaftler Bernard Maris zu sprechen: „Ignorer Freud en économie est à peu près équivalent à ignorer Einstein en physique“.

 

Psychoanalytische Konzepte werden bekanntlich auf Objekte angewandt, nicht auf das Soziale oder auf „die Wirtschaft“ an sich. Das heißt, Psychoanalytiker können über etwas Aussagen treffen, das zum Sozialen oder zum Wirtschaftsleben gehört. Der besondere Vorzug der Psychoanalyse besteht darin, dass sie Kausalitäten kennt, die nicht linear sind, sondern netzwerkartig. Das liegt an ihrer Nähe zur Struktur der Sprache, die dem Unbewussten und seiner Funktionslogik anverwandt ist. Deutungen der Psychoanalyse nehmen für sich auch nicht in Anspruch, erschöpfend zu sein. Sie wollen vielmehr einen Diskurs eröffnen, der ausgehend von Einzelfällen und Beobachtungen deren Differenzen herausarbeitet. Das Unbewusste erscheint darin als das Intimste und Verborgendste, das zumal auch am wenigsten gewusst oder erkannt werden kann.

 

Weil Freud zufolge jeder psychische Vorgang eine biologische Seite hat, interessiert sich die psychoanalytische Perspektive für den Eros jener Kräfte, die auch in der Wirtschaft am Werk sind. Nicht etwa Instinkte steuern das Handeln von Managern, Verbrauchern und Aktionären, sondern orale, anale, phallische und genitale Triebe. Triebe ziehen beständig ihre Bahnen wie ein unermüdlicher Arbeiter im Feld von Angebot und Nachfrage, Lust und Unlust. Normen und Regeln stellen insofern den Versuch dar, das Wirken der menschlichen Triebanlagen innerhalb eines sozialverträglichen Rahmens zu organisieren. Freuds Metapher vom Ich, das nicht Herr im Hause ist, erscheint vor dem Hintergrund aktueller Wirtschaftskrisen als eine Grundproblematik auch der Ökonomie im fachsprachlichen Sinn.


Beim Einsatz der Psychoanalyse außerhalb der Psychoanalyse ist sicher Vorsicht angebracht. Auch für sie gilt schließlich, dass sich die Sprache stets das Objekt schafft, das sie beschreibt. Vielen mag der Triebbegriff in einer Debatte über Ökonomie als eine allzu gewöhnungsbedürftige Angelegenheit erscheinen. Doch entscheidet dieser Eindruck nicht über das Richtig oder Falsch des Begriffs. Für Psychoanalytiker ergibt sich derweil die Notwendigkeit, hinreichend gute Argumente zu formulieren, weshalb Terminologie und Methode der Psychoanalyse auch und gerade in wirtschaftlichen Diskussionen hilfreich sein können.

 

Meines Erachtens liegt das Problem jedoch weniger bei der psychoanalytischen Terminologie. Viele ihrer Begriffe sind in besonderer Weise anschaulich und oftmals der Alltagssprache entlehnt. Es erschiene merkwürdig, sie als fremdartig oder missverständlich abzulehnen. Das Spezifische an der Epistemik der Psychoanalyse ist unterdessen, und dieser Punkt erscheint mir mit Blick auf die Teilhabe an den gängigen Diskursen problematischer, dass sie es mit dem Paradoxon des Wissenserwerbs aufnimmt: Der Ort der Wahrheit liegt für sie jenseits des Erlaubten oder auch nur Erwünschten. Wer sich mit der Psychoanalyse diesem Ort annähert, läuft Gefahr, aus dem Verbund mit der Gemeinschaft herauszufallen.


Das beginnt bereits damit, dass die Psychoanalyse auf Basis ihrer Empirie die Auffassung vertritt, Wörter seien keinesfalls willkürliche Benennungen von Sachen. Der alte Wettstreit um die Frage der Benennung von Dingen aus Platons Dialog Kratylos scheint hierin wieder auf. Für die Psychoanalyse steht fest, dass Benennungen von Dingen wesentlicher Effekt des Sprachgebrauchs sind, dem auch unbewusste Übereinkünfte zugrundeliegen. Dieser Aspekt ist für die Psychoanalyse darum so wichtig, weil sich hieran immer Fragen nach Geschichte, Motivation und Bedeutung einer sprachlichen Bezeichnung anknüpfen. Die psychoanalytische Perspektive fragt vor allem nach dem metaphorischen und subversiven Gebrauch, den Menschen von der Sprache machen, und konterkariert somit landläufige Rationalitätserwartungen an das Sprechen.

 

In phänotypischer Sicht zeigt der christlich-jüdische Mythos vom Sündenfall aus dem Alten Testament, wie etwas, das harmonisch war, zuerst zerstört werden muss, um ein Wissen erfahrbar zu machen. Der alttestamentarische Verbotsübertritt macht deutlich, dass Erkenntnis einen unkalkulierbaren Preis hat. Ferner tritt der innere Konflikt zutage, der daraus resultiert, ein Wissen zu begehren, das sich auf etwas Unmögliches richtet und die Sanktion der Überschreitung nach sich zieht. Normverhalten stellt ja immer auch die Frage, was jemand tun muss, um zu gefallen. Wer wissen will, muss jedoch auch verbotene Früchte essen wollen. Eben hierzu verleitet auch die Psychoanalyse, sofern sie verdrängte Diskurse wiederzubeleben versucht. Hierin liegt die Chance, aber auch das Risiko, die der psychoanalytische Diskurs seinen Beteiligten aufbürdet. MSG

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