Die Zukunft der Psychoanalyse hängt davon ab, inwieweit sie ein ähnliches Interesse für gesellschaftliche Fragen entwickeln kann, wie es der ersten Generation der Psychoanalytiker gelang.

(A. Mitscherlich)

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Text und Körper

Der Weg des Subjekts verläuft in den Rahmen seiner Phantasmen. Die analytische Arbeit dekonstruiert diesen Rahmen und bezieht das Subjekt auf die Funktion des Signifikanten. Bild d-pham
Der Weg des Subjekts verläuft in den Rahmen seiner Phantasmen. Die analytische Arbeit dekonstruiert diesen Rahmen und bezieht das Subjekt auf die Funktion des Signifikanten. Bild d-pham

Die Bereitschaft und die Fähigkeit, exakte Entsprechungsverhältnisse zwischen Zeichen und Bezeichnetem systematisch zu dekonstruieren, ist für psychoanalytisch Tätige ein grundlegender Vorgang. Doch geht es dabei allein um Dekonstruktion? Geht es nicht ebenso um die Rekonstruktion beziehungsweise Konstruktion oder ist der Vorgang noch ein anderer? Diese Überlegungen liegen nah, insofern Deutungen, die mit Bezug auf die Mitteilungen eines Anderen gegeben werden, dem ursprünglich mitgeteilten Text ja auch einen neuen hinzufügen.

 

Die Übertragung einer Geschichte, die ein Anderer erzählt, in eine andere, steht bekanntlich am Anfang der Entstehung von Psychoanalyse. Bekanntlich stellt Freud in den Studien über Hysterie mit Verwunderung fest, dass sich seine Krankengeschichten wie Novellen lesen. Zum Verständnis dessen, was in Psychoanalyse mündet, erweist sich sofern die Frage als zentral, auf welche Weise sich der Freud’sche Umgang mit Text vollzieht. Was war Text für den ersten Mann der Psychoanalyse?

 

Zentral ist der Umgang mit Texten bei Freud vielerorts – beginnend mit der Aphasie-Studie, dann unumkehrbar mit der Verankerung der Ödipus-Theorie und deren auf sprachlichen Transfer rekurrierenden Genealogie – bei der es immer und fortwährend um die Formung des Menschen durch Text geht. Ein Text ist ein Symbolsystem, als solches ist er sichtbar, indes interpretationsbedürftig. Nach welchen Regeln Texte interpretiert werden, wird wiederum von Diskursen beeinflusst oder vorgegeben. Erst die Psychoanalyse als Kur eröffnet den Raum, in dem es möglich wird, den Diskurs des Subjekts zum Sprechen zu bringen (vgl. Senarclens de Grancy 2015).

 

Vor dem Hintergrund der epistemischen Methoden, derer sich Freud bei seinen Readings bedient, stellt sich sofern zusätzlich zur Frage nach der Einstellung Freuds zum Text zugleich jene nach seiner Haltung zum Vernunftbegriff. Welchem Vernunftverständnis folgt Freud in seinem Umgang mit den Mitteilungen seiner Patienten sowie mit der Literatur, die er im Zuge seiner Theorieentwicklung einsetzt? Die Frage mag merkwürdig erscheinen, sofern Vernunft etwa nach der kritischen Philosophie nur in einer möglichen Form Geltungsanspruch erlangen kann – als das höchste, dem Verstand übergeordnete Erkenntnisinstrument.

 

Doch gerade die vertikale Ausrichtung des Vernunftbegriffs wird bei Freud fortwährend dekonstruiert - etwa bereits dadurch, dass Freud den Traum in den Zusammenhang der uns verständlichen seelischen Aktionen des Wachens einreiht, den eine hoch komplizierte geistige Tätigkeit aufgebaut hat (vgl. Freud 1900a, S. 127). Dies impliziert die Annahme divergierender Vorstellungen von Vernunft. Und da Freud den Traum immer als Mitteilung - als Text - behandelt, hat das auch Folgen für die Frage, in welcher Art und Weise vernünftigerweise mit dem Text und dem sprechenden Subjekt umzugehen ist.

 

In seinen Fallgeschichten erleben wir Freud häufig als einen originellen, subtilen, nicht nur fein-, sondern durchaus auch hintersinnigen Denker. Die Umarbeitung des Materials, das heißt der Patientenmitteilungen, abends am Schreibtisch in seiner Praxis, bringt neue Texte hervor, deren literarische Qualität offensichtlich ist, ohne dass dies ihren auf Erkenntnissuche ausgerichteten Anspruch schmälern würde - im Gegenteil. Allerdings hat dieses textuelle Verhältnis zur Folge, dass Freuds Krankenerzählungen kaum in die gängigen Textgenres einzuteilen sind.

 

Es überrascht daher nicht, wenn Psychoanalyse mit ihrer subtil anmutenden Lektüre- und Schreibtechnik wissenschaftliche Ideale verletzt. Denn was „Apologeten reiner Wissenschaften irritiert, ist offenbar, dass der psychoanalytische Diskurs reine Aussageverhältnisse, also das Vertrauen in verlässliche Entsprechungsverhältnisse zwischen Zeichen und Bezeichnetem systematisch dekonstruiert. Eben dies liiert sie eng mit dem Medium der schönen Literatur“ (Hörisch 2008, S. 24).

 

Diese Nähe zur Literatur zeichnet die Psychoanalyse aus, liefert indes noch keine Antwort auf die Frage nach der Legitimierbarkeit der psychoanalytischen Erkenntnisverfahren und Ergebnisse. Es erklärt noch nicht, inwiefern Freuds Psychoanalyse, die für sich in Anspruch nehmen kann, nicht ohne Grund hintersinnig, subtil und subjektiv zu verfahren, in all diesen Eigenschaften auch wirklich intendiert ist. Denn für ein Verständnis der erkenntnistheoretischen Bedingungen des Freudschen Paradigmas muss zusätzlich zur Semiologie auch die Physiologie, das heißt die Entwicklungstadien der Libido als Funktion der Registrierung schlechter, traumatischer Begegnungen, in die Betrachtung einbezogen werden. Moritz Senarclens de Grancy

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