Die Zukunft der Psychoanalyse hängt davon ab, inwieweit sie ein ähnliches Interesse für gesellschaftliche Fragen entwickeln kann, wie es der ersten Generation der Psychoanalytiker gelang.

(A. Mitscherlich)

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Erwartung und Konflikt

Selbst das Naturidyll ist keine konfliktfreie Zone. Bild MSG
Selbst das Naturidyll ist keine konfliktfreie Zone. Bild MSG

Was Menschen voneinander erwarten, bleibt oftmals unausgesprochen. Und nicht selten ist uns unsere eigene Erwartungshaltung unklar. Mit der Einführung der Kategorie der Erwartung war der Forschungsgegenstand Freuds, das Unbewusste, daher in eine andere Richtung eröffnet. Ins Blickfeld der Aufmerksamkeit geriet nun etwas, für das sich der medizinisch-wissenschaftliche Diskurs nicht interessiert hatte: der Konflikt. Menschen geraten in Konflikte, die sie bewältigen müssen, um weiterleben zu können. Es ist gewissermaßen das Wesensmerkmal des Menschen, mit Konflikten umgehen zu lernen. Sie regeln die Bedingungen seines Daseins, was bei primitiveren Lebewesen eine Instinktsteuerung übernimmt.

 

Konflikte offenbaren indes auch, wie sehr der Mensch seiner Natur verhaftet bleibt. Er kann gewissermaßen nicht aus der Haut, was ihn in Widerspruch zu den Anforderungen der Kultur bringt. Der Konflikt ist sofern der Preis, den der Mensch für die Errungenschaften der Zivilisation bezahlt. Konflikte als auch das Leiden, das mit ihnen einhergeht, unterscheiden sich dabei in vielerlei Hinsicht. Psychoanalyse hat als verstehensgeleitete Forschungsmethode und Kur den subjektiven Faktor in konkreter Analyse erfahrbar gemacht und als Wissenschaft versucht, ihn zu objektivieren.

 

Dass Erwartung messbar ist, wurde am physiologischen Tierexperiment bewiesen. In den Pawlowschen Versuchen über Speichelsekretion wurden Hunden verschiedene Nahrungsmittel vorgezeigt und die abgesonderte Speichelmenge gemessen. Die Menge schwankte, je nachdem der Versuch die Erwartung des Hundes, gefüttert zu werden, bestärkte oder täuschte.

 

Freud nimmt in seiner Witz-Studie Bezug auf diesen Pawloschen Versuch und argumentiert, dass beim Menschen von einer ähnliche Reaktionsweise auszugehen ist: „Auch wo das Erwartete bloß Ansprüche an meine Sinnesorgane und nicht an meine Motilität stellt, darf ich annehmen, daß die Erwartung sich in einer gewissen motorischen Verausgabung zur Spannung der Sinne, zur Abhaltung nicht erwarteter Eindrücke äußert, und darf überhaupt die Einstellung der Aufmerksamkeit als eine motorische Leistung, die einem gewissen Aufwand gleichkommt, auffassen“ (Freud 1905c, S. 226). Während das Wesen der Überraschung beim Witz kein zweites Mal gelingt, läßt sich der Erwartungsmechanismus andernorts beliebig oft wiederholen.


Der Umgang mit Erwartungen ist ein komplexer Erfahrungswert. Psychoanalyse als ein Vergegenwärtigungsunternehmen für Erfahrungen interessiert sich insofern für die Voraussetzungen und Prozesse, die zu bestimmten Erwartungen und ggf. zu ihrer Enttäuschung führen. Dabei bedient sie sich allerlei Konstruktionen, die gewiss immer auch Konstruktionen der Psychoanalyse selbst sind. Dieses erkenntnistheoretische Problem ist indes bei der Psychoanalyse gut aufgehoben, weiß sie doch darum, dass alle Konstruktionen Kompromissbildungen sind.

 

Dass die Psychoanalyse eine Erfahrungswissenschaft ist, wird nicht immer anerkannt. Dabei war Freuds Ausgangspunkt stets das Material, das ihm seine Patienten lieferten – neben ihren unmerklichen Handlungen in seiner Praxis vor allem ihre Geschichten, die sie ihm in der Kur erzählten. Dieses Material wird nicht vermessen oder klassifiziert, sondern übersetzt, übertragen, gedeutet – kurzum: in einen neuen Sinnzusammenhang transferiert. Nur radikale Empiriker sprechen der Psychoanalyse ihre Empirie ab, weil ihrer Ansicht nur empirisch sei, was auf Apparaten oder in Zahlenkolonnen darstellbar ist.

 

Die Psychoanalyse lebt hingegen von der Erfahrung, „sie ist geradezu eine Sturmflut von Erfahrungsbegriffen. Sie also als eine Erfahrungswissenschaft zu bezeichnen, ist kein Argument, sondern eine Selbstverständlichkeit“ (Caroline Neubaur 2008, S. 25). Und dennoch ist es für die Psychoanalyse so schwer, ihren empirischen Status unter den Wissenschaften zu behaupten. Das Wort „Erfahrung“ avisierte einst die große Fahrt, das Reisen und Welterleben – eben Dinge, von denen sich gut und ausgiebig erzählen läßt. Und zwar umso besser, desto näher jemand am Erzählten dran war. Im Erzähler inkorporiert war darum immer auch der Zeuge. Das Moment der Zeugenschaft hat die Moderne jedoch aus dem Empirieprozess entfernt und durch technische Messverfahren ersetzt.

 

Heute darf Empirie nicht mehr auf Erzählungen beruhen. Sie muss gut sichtbar und in Powerpoint Präsentationen oder Excel Diagrammen darstellbar sein. Man glaubt nicht mehr dem Zeugen, sondern dem, was man selbst sieht und fühlt. Ganz gleich ob es sich dabei um eine technische Konstruktion handelt wie bei den bildgebenden Verfahren in der Hirnforschung oder um psychologische Tests zum Ankreuzen in Einstellungsverfahren. Diesen Verfahren entgeht jedoch vieles. Was der Einzelne über sich selbst und über sein Leben zu berichten hat, tritt in den Hintergrund. Vor allem wird jedoch übersehen, wie sehr das Messinstrument das Messergebnis mitbestimmt.

 

Wissenschaft funktioniert längst nicht mehr als guter Glaube, als Vertauensprojekt in die Intelligenz und Unabhängigkeit derjenigen, die sie betreiben. Dies gilt natürlich auch für die Psychoanalyse. Die Entwicklung der Neuropsychoanalyse trägt dieser Erwartungshaltung Rechnung, sofern sie auf die Möglichkeit einer Messbarkeit seelischer Vorgänge schielt – um den Preis der Autonomie der Psychoanalyse.

 

In diesem Sinne hat Empirie stets auch eine politische Dimension, sofern hier über die Frage verhandelt wird, welchen Stellenwert das Wort des Einzelnen in Prozessen der Urteilsfindung (Diagnosen oder Gerichtsurteile) hat. Was bei der Psychoanalyse weithin in Vergessenheit gerät, ist auch, dass sie im Unterschied zur Jurisprudenz sowie auch zur Medizin gerade kein Urteil anstrebt. Ihre Kunst besteht vielmehr darin, das Urteil fortwährend in der Schwebe zu halten.

 

Lacan macht in seinem XI. Seminar zu den Vier Grundbegriffen der Psychoanalyse einen Zwischenraum auf. Er stellt heraus, dass das Subjekt mit dem Individuum nicht identisch ist. Folglich hat auch die Redeweise, wie sie selbst unter Psychoanalytikern vorkommt, wonach jemand ein Unbewusstes habe, keinen Sinn. Der einzelne Mensch hat kein Unbewusstes, sofern es nur zwischen den Subjekten existiert. Mit anderen Worten: Das Unbewusste macht an den Grenzen des Subjekts nicht Halt, das Subjekt ist durchaus als Pluralis zu verstehen. Demgegenüber erscheint es als ein häufiger Irrtum, dass das Subjekt autonom gedacht wird.

 

Psychoanalytiker sind darin geübt, Bedingungen zu schaffen, um den Bildungen des Unbewussten auf die Spur zu kommen. Der Zweck der Kur ist es, die unbewussten Bildungen auf- und anzugreifen und einen anderen Umgang mit ihnen zu ermöglichen. Man erinnere sich auch an Freuds Diktum aus Das Ich und das Es, wonach die Analyse darauf abziele, dem Ich die Freiheit zu verschaffen, sich so oder anders zu entscheiden (vgl. Freud 1923b, S. 279, Fn. 1). MSG

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