Die Zukunft der Psychoanalyse hängt davon ab, inwieweit sie ein ähnliches Interesse für gesellschaftliche Fragen entwickeln kann, wie es der ersten Generation der Psychoanalytiker gelang.

(A. Mitscherlich)

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Neurowissenschaften – Chance oder Risiko für die Psychoanalyse?

„Wir operieren stets mit einem großen X.“ (Freud in Jenseits des Lustprinzips)  Bild: "My simple brain model"/brewbooks/flickr
„Wir operieren stets mit einem großen X.“ (Freud in Jenseits des Lustprinzips) Bild: "My simple brain model"/brewbooks/flickr

Freuds Konversionskonzept kann als ein Übersetzungsvorgang zwischen psychischen und physischen Vorgängen betrachtet werden, dem die Sprache als formgebende Struktur zugrundeliegt. Die Begeisterung für die Neurowissenschaften auch in Reihen der Psychoanalyse stößt indes vielfach auf Kritik, weil die Frage des Sprachlichen, der Bedeutung der sprachlichen Vermittlung, nicht ausreichend reflektiert wird.


Bei der Neuropsychoanalye geht es um den Versuch, psychoanalytische Theorie in der Neurowissenschaft zu nutzen und neurowissenschaftliche Theorien und Erkenntnisse für die Psychoanalyse als Praxis zu nutzen. Während jedoch die Hirnforschung auf der Basis bildgebender Verfahren argumentiert, leben die Fallgeschichten der Psychoanalytiker von der Rede ihrer Analysanden. Eine Psychoanalyse, die ihre Erkenntnisrichtung an technische Verfahren wie das Neuroimaging (Müller-Lissner, F.A.Z. vom 2. Dezember 2008) bindet, verliert unter Umständen ihre konstitutionelle Nähe zu Sprache und Sprechen aus dem Blick.

 

Ist es möglich, dem Gehirn beim Denken zusehen? Mit modernen technischen Verfahren lassen sich neuronale und strukturelle Veränderungen zum Beispiel bei chronisch depressiven Patienten während einer psychoanalytisch-psychotherapeutischen Therapie messen. Untersuchungen mit Computertomographen (fNMRT) erlauben also in der Tat, das Gehirn und seine Teile zu kartographieren und funktionelle Aussagen über das Zusammenwirken von Therapie und Hirntätigkeit zu machen. Insbesondere die Verbesserung der Bildgebung mit Hilfe magnetischer Resonanzphänomene hat die neuronale Funktionsdiagnostik und deren Möglichkeiten erweitert.

 

Von kulturwissenschaftlicher Seite ist dem jedoch zu entgegnen, dass das Gehirn weder denkt, noch fühlt, phantasiert, assoziiert, träumt oder sein Gegenüber spiegelt: Es ist der Mensch, der denkt, fühlt, phantasiert, träumt u.s.w. Was beim Menschen zu Empfindungen wie Freud, Leid, Glück oder Wut führt, hat mit Erfahrung zu tun und mit nachgeordneten Differenzierungen innerhalb der sprachlich verfassten Wertemuster einer Kulturordnung.


Der Nutzen lokalisierbarer Hirnaktivitäten in den unterschiedlichsten psychischen Zuständen und Stadien anhand bildgebender Verfahren erscheint vor dem Hintergrund dieser Tatsache auf rein quantitative und lokalisationistische Aussagen beschränkt. Wir wissen heute genau, wo die primäre Verarbeitung der optischen Signale in der Hirnrinde erfolgt – in der Area 17. Das wussten wir aber auch schon vor 150 Jahren. Dieses Wissen ist indessen ein deskriptives, sofern es dabei bleibt, den verschiedenen Hirnregionen bestimmte Eigenschaften zuzuschreiben.

 

Überdies gründet das Wissen der Hirnforschung auf einem metaphorischen Sprachgebrauch. Nicole Becker (2006, S. 213) hat in ihrem Buch Die neurowissenschaftliche Herausforderung der Pädagogik darauf hingewiesen, dass Neurowissenschaftler in ihrer Rede von „Netzen“ und „Zentren“, die miteinander kommunizieren, mit Hilfe von Metaphern zwei kategorial verschiedene, miteinander absolut inkompatible Beschreibungsebenen und Erkenntnisgegenstände miteinander verbinden und kompatibel machen. Das Problem ist hierbei nicht etwa der Gebrauch von Metaphern in der Wissenschaft, sondern die erkenntnis- und wissenstheoretische Naivität, mit der diese für Begriffe gehalten werden.

 

Noch als Neurologe hat Freud frühzeitig – beginnend mit der Aphasie-Studie aus dem Jahr 1891 – gegen die Lokalisation, d.h. gegen eine topische Verortung von neurologischen Vorgängen, argumentiert und eine funktionsgemäße Sichtweise der beteiligten Hirnareale in den Vordergrund gestellt. Diese Akzentverschiebung vom Ontischen zum Prozesshaften ist eine für Freud und die Psychoanalyse charakteristische Denkbewegung: Noch in der Preisgabe der Archäologie-Metapher 1937 setzt sich diese Entdeckungslogik des Freudschen Denkstils durch, die zu keinem Zeitpunkt im Schematismus einer Abbildlogik aufgehen möchte. Leider geht die Neuropsychoanalyse epistemologisch hierhinter zurück und bringt sich und die Psychoanalyse in Gefahr, Übertragungsphänomene konkretistisch für die Wirklichkeit zu halten. Dann kommunizieren Zentren wirklich, fühlen, sprechen, denken u.s.w.

 

Man kann auch von Sabina Spielrein lernen, die eine phylogenetische Ebene hineinbringt, indem sie zeigt, wie Gedächtnis rhythmisierend erinnerbar gemacht werden kann. Dies ist eine andere Qualität von Erklärung, als sie die Biologie anbieten kann.

 

Der deutsche Hirnforscher Gerhard Roth meint, mit bildgebenden Verfahren „tief in die unbewussten Schichten des Seelischen schauen“ zu können. Ist damit dasselbe Unbewusste gemeint, das Freud ausgearbeitet hat? Autoren wie Ludwig Haesler kritisieren daher die missverständliche Begriffsverwendung bei Roth, sofern der Terminus des Unbewussten dort ohne Freuds Konzeptualisierung des dynamischen Unbewussten – bloß deskriptiv – verwendet wird.


Welche Gründe gibt es dann aber für einen Dialog zwischen Psychoanalyse und Neurowissenschaften, wie er etwa von dem Gedächtnisforscher und Nobelpreisträger Eric Kandel geführt wird? Eventuell sind es eher wissenschaftspolitische als wissenschaftliche Motive, die bei Psychoanalytikern die Leidenschaft für eine Neuropsychoanalyse wecken. Die Verbindung zur modernen Hirnforschung, so die Erwartung, könne der Psychoanalyse ein Ticket zum Zug der heutigen Wissenschaften verschaffen, den Freuds Erben verpasst zu haben glauben.


Der verständliche Wunsch, als Teil des etablierten Wissenschaftsbetriebs anerkannt zu sein, verdeckt indes die Frage, ob die psychologische Wissenschaft der Naturwissenschaft zu folgen habe? Es geht evtl. weniger darum zu klären, ob die Psychoanalyse eine Wissenschaft sein kann oder nicht, sondern um die allgemeinere Frage, was Wissenschaft überhaupt sei. Eine grundlegende wissenschaftstheoretische Frage, der sich die Psychoanalyse stellen muss, d.h. wo sie sich verorten muss. Das hat Freud oft genug offengelassen, immerhin stand der ja mit einem halben  Bein im Positivismus des 19. Jahrhundert.

 

Es bleibt einstweilen offen, welchen erkenntnistheoretischen Nutzen die modernen Neuro-Verfahren der Psychoanalyse bringen. Die psychoanalytische Erkenntnislehre sollte sich im Einflussbereich bildgebender Verfahren davor bewahren, „Ursprungslösungen“ zu verfallen. Denn Bilder suggerieren Abbildidentität, sofern sich dem Betrachter die Evidenz des Visuellen zunächst leicht erschließt. Ein Irrtum, der indes auch auf das Sprachverstehen übergreift, wenn es als eine Entsprechung von Wort und Sache aufgefasst würde. MSG

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