Freuds Wende vom Naturwissenschaftler zum Psychotherapeuten ging einher mit der Verschiebung des Fokus von der Anatomie zur Sprache. Die Leidenssymptome der Hysteriker – Schmerzen, Lähmungserscheinungen, Stottern, Halluzinationen u.v.m. – erwiesen sich als nicht unmittelbar organisch bedingt, sondern als eine Funktionalisierung des Körpers durch die Psyche auf der Basis sprachlicher Verknüpfungen.
Freud beobachtete bereits zu Beginn der 1890er Jahre, dass Redewendungen wie der sprichwörtliche Schlag ins Gesicht bei Beleidigungen oder die Rede vom richtigen Auftreten in Gesellschaft der Funktionsweise der Hysterie entgegenkommen, sofern sie den sprachlichen Ausdruck nurmehr in einen körperlichen übertragen muss. So wurde beispielsweise plausibel, wie die Gesichtslähmung einer Patientin zustandekam bzw., allgemein gesprochen, wie der Körper zum Ausdruck für seelische Konflikte und Ängste werden kann.
In der Falldarstellung Katharina schreibt Freud einen geradezu novellenartigen Stil; es ist die Geschichte einer Zufallsbegegnung mit einer jungen Frau in den Hohen Tauern, wo Freud hingefahren ist, um vor der Stadt und der Arbeit in seiner neurologischen Praxis zu entfliehen. In Freud den Herrn Doktor aus dem Gästebuch erkennend, schildert sie ihm ihr Leiden, Halluzinationen, unerklärlichen Schwindel und Erbrechen, und hofft auf eine Lösung. Abweichend von seiner sonstigen Praxis nimmt sich Freud der Sache im einfachen Gespräch an. „Das wußte ich auch nicht“, schreibt er später eingedenk Katharinas Frage nach der Bedeutung ihrer Symptome und ergänzt: „Aber ich forderte sie auf, weiter zu erzählen, was ihr einfiele, in der sicheren Erwartung, es werde ihr gerade das einfallen, was ich zur Aufklärung des Falles brauchte“ (Freud 1895d, S. 189).
Die literarische Form zeichnet sich insbesondere dadurch aus, dass sie ihre Figuren nicht vorinterpretiert – denn das ist die Aufgabe des Lesers. Demgegenüber tendieren summarische Symptomtaxonomien, wie sie in der Psychatrie der 1890er Jahre bereits üblich waren, dazu, die in ihnen zusammengetragenen Erscheinungsformen pathologischer Symptome am Patienten zur Anwendung zu bringen. Diese Gegenüberstellung von Narrativ und Taxonomie soll nur verdeutlichen, dass die Wahl der Form der nachträglichen Verschriftlichung eines Falls auch Einfluss auf die Art des Nachdenkens über Patienten und ihre Mitteilungen hat. In dem Freud-Zitat wird derweil die Differenz zwischen Beschreibungssprache und Objektsprache deutlich sowie die Besonderheit von Psychoanalyse, sich an die Objektsprache rückzubinden und diese zum Ausgangspunkt für weitere Überlegungen zu machen.
Die rätselhaften Körpersemiologien der Hysteriker ließen sich in der psychoanalytischen Kur lösen, sobald der unbewusste Zusammenhang mit den verursachenden Faktoren wiederhergestellt war. Vorstellungen spielten dabei eine wichtige Rolle, sofern Freud erkannt hatte, dass es Unverträglichkeiten im Vorstellungsleben waren, an denen seine Patienten litten und erkrankten. Die Einsicht in diesen Hergang bewirkte die Abkehr Freuds von der physiologischen Kausalität zu einer kommunikativen Hermeneutik, die die Rede des Patienten zum vorrangigen Material einer psychischen Analyse macht. Damit eröffnete Freud der Psychiatrie zugleich das Feld der Sprache und ihres unerschöpflichen interpretativen Desiderats.
Das Ziel der Psychoanalyse sind Wissensbestände, deren Erreichung deswegen so schwer ist, weil sich starke Widerstände dagegenstemmen. Selten lässt sich das Wissen direkt erreichen, meist nur auf Umwegen über Phantasien. Im Manuskript L zum Entwurf einer Psychologie (1895) bezeichnet Freud Phantasien als „psychische Vorbauten, die aufgeführt werden, um den Zugang zu den Erinnerungen zu sperren“. Weiter heißt es dort: „Die Phantasien dienen gleichzeitig der Tendenz, die Erinnerungen zu verfeinern, zu sublimieren. Sie sind hergestellt mittels der Dinge, die gehört werden und nachträglich verwertet, und kombinieren so Erlebtes und Gehörtes, Vergangenes (aus der Geschichte der Eltern und Voreltern) mit Selbstgesehenem. Sie verhalten sich zum Gehörten wie die Träume zum Gesehenem. Im Traum hört man ja nichts, sondern sieht.“ (Kursiv. i.O.)
Freuds erkenntnistheoretischer Schritt bestand darin, Sprache und Sprechen für Rückschlüsse auf Phänomene in einer Weise zu
nutzen, welche damals undenkbar erschien und es mitunter auch heute noch ist. Dessen ungeachtet hatte das sprachliche Verfahren keinen definitiven Abschied von der Physiologie zur Folge, sofern
Freuds Triebbegriff das Körperliche mit dem Seelischen wie eine Klammer verbindet. Freud zog überdies in Erwägung, ob die nunmehr hermeneutisch und semiotisch interpretierbaren Phänomene sich
nicht eines Tages wieder im Rahmen einer noch nicht absehbaren Neuropsychologie reformulieren lassen würden. MSG
Kommentar schreiben