Die Zukunft der Psychoanalyse hängt davon ab, inwieweit sie ein ähnliches Interesse für gesellschaftliche Fragen entwickeln kann, wie es der ersten Generation der Psychoanalytiker gelang.

(A. Mitscherlich)

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Was schützt vor der Macht der Vorurteile?

Grundrechte Vorurteil Jakob-Kaiser-Haus
Grundrechte - Antithese zum Vorurteil. "Grundrechte 49" von Dani Karavan am Jakob-Kaiser-Haus in Berlin. Foto Nico Reski

Vorurteile begegnen einem überall, wo es Menschen gibt. Sie gehören wie Klischees und Stereotypen zum Wahrnehmungsalltag dazu. Leider, denn nicht selten führt die Vorurteilsbefangenheit zu Wahrnehmungsverzerrungen. Ausgrenzung, Benachteiligung und Diskriminierung sind die möglichen Folgen. Welche institutionellen Kräfte muss eine rechtsstaatlich orientierte Gesellschaft ausbilden, um ein wirkungsvolles Korrektiv gegen Manipulationen durch Vorurteile zu  etablieren? 

 

Betrachtet man die Funktionsweise von Vorurteilen näher, so fällt auf, dass durch vorurteilsgesteuerte Sichtweisen Realität schon im Moment des Wahrnehmens verzerrt und verschoben wird. Vorurteile sind wie ein optischer Filter, der uns bestimmte Objekte einseitig gerecht oder ungerecht, gut oder böse, rein oder unrein usw. wahrnehmen lässt. Vorurteile schränken die Wahrnehmung ein und hinterlassen eine Informationslücke. Es entsteht das Bild einer reduzierten Wirklichkeit.


Doch was ist der Nutzen, den eine Gesellschaft oder auch einzelne Individuen von einer derart reduzierten Wirklichkeit haben? Grundsätzlich erfüllt das Vorurteil zwei Funktionen: Einerseits verschafft es Halt in der Gruppe und wirkt der Angst vor der eigenen sozialen Ausgrenzung entgegen. Denn indem wir uns der Denk- und Sichtweise eines oder mehrerer Vorurteile unterwerfen, akzeptieren wir die Wahrnehmungswirklichkeit einer Gemeinschaft. Im Gegenzug genießen wir deren Akzeptanz. 


Erliegen wir der Gruppenüberzeugung, eine Minorität sei verachtenswert, weil sie krummnasig, ungebildet oder raffgierig sei – verhalten wir uns also konformistisch mit dieser Vorurteilshaltung – so riskieren wir nicht, bezüglich unserer Gruppentreue auf den Prüfstand gestellt zu werden. Das Vorurteil besorgt dann die reibungslose Einpassung in die Staffelung der Subordination und erspart dem Einzelnen den Konflikt der Abweichung und Auflehnung.

 

Zum anderen wirkt das Vorurteil stabilisierend auf das seelische Gleichgewicht nicht nur von Individuen, sondern gleichfalls auf die Binnenatmosphäre einer Gruppe. Denn auch im kollektiven Geschehen stellen Vorurteile eine beruhigende Urteilsgewissheit her, die eine Gruppe eint, wo eigentlich differenzierender Zweifel angebracht wäre. Vorurteile täuschen eine gefestigte Meinung vor, ohne dass zuvor ein Prozess der Meinungsbildung stattgefunden haben durfte.


Die von Vorurteilen gesteuerte Reaktionsbereitschaft behandelt das Objekt dann, als wäre es aus eigener Erfahrung bekannt. In Wirklichkeit sind es jedoch äußerliche Autoritäten, die ein solches Urteil vorgeben. Im Ergebnis verstummt der Zweifel, denn wo Gewissheit herrscht, kann man nicht zweifeln. Diese Einschränkung des Könnens ist der springende Punkt. Das so hohe Gut der Freiheit erweist sich daher vor allem als eine Freiheit vom Vorurteil.

 

Doch welche Methoden und Instrumente stehen einer Gemeinschaft zur Verfügung, um diese Freiheit vom Vorurteil zu bewahren? Wie lässt sich vorbeugen, damit Freiheit nicht in eine Freiheit des Stärkeren und Gewaltbereiteren umgedeutet oder als Freiheit einer undifferenzierten, gleichgeschalteten Masse zu freiheitsfeindlichen Zwecken missbraucht wird? Vorurteilsgesteuerte Verhaltensweisen scheinen nach einer integeren Gegenkraft zu verlangen, die in der Lage ist, einer die Kritikfähigkeit korrumpierenden Vorurteilslogik Einhalt zu gewähren. Im individuellen, einzelfallbezogenen Geschehen sind es die ichkritischen Praxen - Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten (Freud 1914) -, die es erlauben, sich unbewusster Vorurteile bewusst zu werden und sie zugunsten eines vorläufigen Urteils aufzuheben.


Im gesellschaftsstaatlichen Kontext ist es eine unabhängige, über allem stehende Instanz, die diese Aufgabe wahrnimmt: Die Grundrechtskataloge, wie sie in den Verfassungen moderner Staaten ihren Ausdruck gefunden haben, stellen ein Statut dar, das allen anderen Werten und Normen hierarchisch vorangestellt ist. Grundrechte bilden in diesem Sinn die stärkste Antithese zur Tradition der Vorurteile. Sie sind Ausdruck äußerster Anstrengungen, ihrer innezuwerden und sie zu vermeiden.


So formuliert der Artikel 3 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland: „1. Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. 2. Männer und Frauen sind gleichberechtigt. 3. Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauung benachteiligt oder bevorzugt werden.“ 

 

Der allgemeine Gleichheitssatz in Art. 3 Abs. 1 GG fordert die Gleichbehandlung aller Menschen vor dem Gesetz.- Gerade diese letztgenannte Nuance ist Merkmal eines differenzierenden Bewusstseins. Der Satz „Alle Menschen sind gleich“ wäre selbst das Musterbeispiel eines Vorurteils, sofern er Individualismus und Pluralität verleugnete.


Georg Orwell hat in seiner Novelle Animalfarm mit literarischen Mitteln gezeigt, wie einige wenige für sich immer den Anspruch reklamieren, ‘gleicher’ zu sein als andere. Eine Unterscheidung aus sachlichen Gesichtspunkten, wie sie das Grundgesetz fordert, ist hingegen notwendig und zulässig, wobei die Grenze unterschiedlicher Behandlung durch die Willkür gesetzt ist.

 

Diese Forderung nach Rechtsgleichheit hat in den Verfassungen vieler Länder eine alle Lebensbereiche durchdringende Position erhalten. Es hat jedoch Jahrhunderte in Anspruch genommen, um diese Einsicht in rechtsverbindlichen Gesetzen zu formulieren. Damit sind moderne Gesellschaften jedoch keineswegs am Ziel angelangt, denn auch Grundrechte sind fortlaufend gegen Verdunkelungen durch Vorurteile zu verteidigen. Moritz Senarclens de Grancy

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Kommentare: 1
  • #1

    Sebastian (Sonntag, 25 Oktober 2015 19:37)

    Puh....also die konstrukte, mit denen hier gearbeitet wird, haben es ja in sich...allein die postulierung einer realität, die erfahrbar sei, sofern wir uns von "vorurteilen" befreien, offenbart einen ziemlich naiven realismus. Da wahrnehmung immer eine konstruktionsleistung und immer musterhaft geschieht, ist glaube ich die frage falsch gestellt und damit auch die antwort...es gibt keine "vorurteilsfreie" welt, unser gehirn funktioniert gar nicht ohne. Die frage ist vielmehr, wie entwickeln wir im individuum ein kritisches verständnis für immer perspektivische wahrnehmung und ohne die unsinnige postulierung einer hegemonialen wirklichkeit zu wahrheit und realität. Und welche vorurteile sind moralisch unzulässig. Aber das bedeutet vor allem andere wahrnehmungsmuster zu erlernen (z.b. solche die z.b. hautfarbe oder geschlecht nicht als bedeutungshafte unterschiede wahrnimmt). Das sollte der weg sein statt mit gesetzen zu arbeiten.