Die Zukunft der Psychoanalyse hängt davon ab, inwieweit sie ein ähnliches Interesse für gesellschaftliche Fragen entwickeln kann, wie es der ersten Generation der Psychoanalytiker gelang.

(A. Mitscherlich)

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Metaphorik versus Neuropsychoanalyse

Wie erforschen so unterschiedliche Disziplinen wie Psychoanalyse und Neurologie die klinische Realität? Bild: "Brain research" Andreas Sandberg/flickr
Wie erforschen so unterschiedliche Disziplinen wie Psychoanalyse und Neurologie die klinische Realität? Bild: "Brain research" Andreas Sandberg/flickr

Wer sich heute danach erkundigt, was Psychoanalyse eigentlich sei, will sich gern auf neueste Forschungen verlassen. Mit dem neuropsychoanalytischen Begriff wird ein Bild von Psychoanalyse konstruiert, wonach es möglich erscheine, die Seele auf der Basis einer mess- und objektivierbaren Naturwissenschaft berrechenbar zu machen. Darum heißt sie hier auch nicht Seele, sondern Gehirn. Beim Gehirn kann zumindest die Lage als gesichert gelten, weiß man doch immer, wo es sich befindet: zwischen den Ohren. Mit der Seele ist das weniger einfach, sie hat keinen festen Sitz, sie ist überall.

 

Modern verpackt als Neuropsychoanalyse lässt sich der Mittelschicht auch die Wirkung der psychoanalytischen Kur verständlich machen, wo es ansonsten vielen technik- und autoritätsgläubigen Menschen schwerfiele zu glauben, dass einem körperlichen oder psychischen Leiden ggf. mit einer auf das eigene Sprechen und den Austausch von Worten ausgerichteten Kur beizukommen sei. Es regt sich kein Zweifel mehr, wenn sich der therapeutische Nutzen von Psychoanalyse mit neurologischen Studien wissenschaftlich belegen lässt. Doch welche Rolle spielt es, dass die psychoanalytische Erfahrung Abläufe im Hirn verändert und diese Veränderung in einem Zusammenhang mit dem Selbsterleben oder den Gedächtnisinhalten des Analysanten steht? Sind die sog. „Spiegelneuronen“ aus der Hirnforschung objektivierbare Äquivalente der sonst sehr intuitiv wahrgenommenen Übertragung und Gegenübertragung?

 

Der Hirnforscher Gerhard Roth behauptet in seinem Buch Wie das Gehirn die Seele macht (2014), die Suche nach den Leidensgründen entsprechend der Freudschen Psychoanalyse werde durch die neurobiologische Forschung zunehmend in Frage gestellt und zu Gunsten einer Betonung des Therapeuten-Patienten-Verhältnisses ersetzt. Dies habe mit der Ausschüttung von Oxytocin zu tun, ein Hormon, das die Amygdala beruhige. In der Folge werde die Cortisolausschüttung in der Nebennierenrinde gehemmt, während das Enzym Thyrosinhydroxylase freigesetzt werde, das die Serotoninausschüttung und die Dopaminsynthese wie auch die Dopaminausschüttung fördere.

 

Ungeachtet der Richtigkeit von Roths Überlegungen stellt sich die Frage, was der neurobiologische Hintergrund von Begegnungserfahrungen mit dem Ansinnen von Psychoanalyse gemeinsam hat? Beharrte man darauf, dass das Wohlbefinden eines Menschen von Glückshormonen abhängig ist, deren Ausschüttung durch menschliche Gefühlsbindungen angeregt werden, fragt sich, wie diese Bindungen gebahnt werden? Durch die konkrete Beziehung, durch die Sprache und das Sprechen kommunizierender Individuen oder auf der Vorstellungsebene? Ist das Ziel einer Psychoanalyse überhaupt Glück? Oder geht es nicht um eine Erweiterung des Denk- und Handlungsspielraums, woraus sich ggf. Veränderungen im eigenen Leben als auch im Verhältnis zu anderen ergeben?

 

Niemand bezweifelt, dass es in den Neurowissenschaften große Fortschritte gegeben hat. So erhielt Eric Kandel im Jahr 2000 gemeinsam mit dem Schweden Arvid Carlsson und dem US-Amerikaner Paul Greengard den „Nobelpreis für Physiologie oder Medizin“ für ihre Arbeiten über die Signalübertragung im Nervensystem. Einige der synaptischen Veränderungen, die Kandel und seine Kollegen erforschten, sind Beispiele für Lernvorgänge nach den beiden Hebbschen Regeln. So sterben nach der zweiten Hebbschen Regel Neuronennetze ab, wenn sie nicht hin und wieder aktiviert werden. Das Hebb-Gesetz erklärt sofern den Effekt der "korrigierende Erfahrung", wie die Psychotherapie bereits von Ferenczi bezeichnet wurde. Doch inwieweit zielt Psychoanalyse als Kur darauf ab, eine „korrigierende Erfahrung“ zu ermöglichen?

 

Gewiss sind funktionelle Netzwerke und intakte Hirnregionen für ein bestimmtes Funktionieren des Psychischen notwendig; hinreichend sind sie indes nicht. Für die Hinreichbarkeit des Psychischen fehlt die Dimension der Bedeutung, die sich in Sprache ausdrückt und durch diese erfahren wird. Das Psychische wird daher auch in Freuds Frühwerk hauptsächlich als Bedeutung verstanden, wie sie sich aus der Mehrdeutigkeit des Sprechens ergibt. Dessen ungeachtet hielt Freud zeitlebens an der Überzeugung fest, Gegenstand der Psychoanalyse sei Natur. Man darf sich indes an diesem Widerspruch – naturwissenschaftliches Feld oder Sprache? – nicht stören, weist er doch auf das produktive Spannungsfeld hin, das den psychoanalytischen Prozess erst ermöglicht.

 

Was in der Diskussion um die Neuropsychoanalyse auch zu kurz kommt, ist die Bedeutung der Sexualität für die Entwicklungen in Kindheit, Jugend und Erwachsenenalter. Bekanntlich hat Freud die sog. „Triebschicksale“ in den Träumen und Fehlleistungen seiner Patienten als auch in alltäglichen Situationen beleuchtet. Diese Rolle der Sexualität geht in der Debatte über die Bedeutung von Neurowissenschaften für Psychoanalyse verloren. Dabei handelt Psychoanalyse als Theorie und Kur ganz wesentlich davon, den Wunsch bzw. das Muster des Begehrens eines Individuums zu erhellen. Überdies erweisen sich diese Begehrensmuster regelmäßig als das sprachlich vermittelte Begehren anderer, zunächst desjenigen von Mutter und Vater, welche ein Lebenlang im Individuum fortwirken. Hieran knüpft sich nicht zuletzt auch die Frage nach der sexuellen Identität, also jene für das Individuum so wichtige Frage, warum es sich als Mann bzw. als Frau fühlt und nicht selten auch als etwas dazwischen oder als beides in einem.

 

Freud hat dem Rätsel der Sexualität des Menschen an vielen Stellen seines Werkes Kommentare und Untersuchungen gewidmet. Zu Recht, denn die Sexualität berührt ganz entscheidende Fragen der menschlichen Geistesentwicklung, etwa die sich in der Kindheit frühzeitig stellende Frage, woher die Kinder kommen oder worin der Unterschied zwischen den Geschlechtern besteht. Diese und andere Fragen der Geschlechtlichkeit werden für jedes Kind zum Gegenstand kindlicher Theoriearbeit. Diese infantilen Sexualtheorien können Freud zufolge als vorbildlich für das Neugierverhalten des späteren Erwachsenen gelten. Die Kernfrage, die sich hier stellt, ist, aus was die sexuelle Differenz im Sinne einer psychischen Realität hervorgehe?

 

Auch die Verfechter der Neuropsychoanalyse argumentieren mit dem frühen Freud, der das Wissen über das Gehirn nutzte, um subjektive Phänomene zu deuten. Ein Paradebeispiel sei die Übertragung, deren theoretische Begründung auf der neurologischen Annahme des Assoziationszwangs der Emotionen fuße. Ein erkenntnistheoretischer Fehler? Die Übertragung, die Freud etwa im Fall Dora als psychisches Phänomen untersucht, entspricht nicht den materiellen Verbindungen neuronaler Verschaltungen im Gehirn. „Ist es gerechtfertigt“, fragte Freud bereits 1891 in seiner berühmten Aphasiestudie, „einer Nervenfaser, die über die ganze Strecke ihres Verlaufs bloß ein physiologisches Gebilde und physiologischen Modifikationen unterworfen war, mit ihrem Ende ins Psychische einzutauchen und dieses Ende mit einer Vorstellung oder einem Erinnerungsbild auszustatten? [...] Ich glaube nicht“ (Freud 1891b, S. 97).

 

Und was ist mit der Übertragung auf der sprachlichen Ebene? Freuds wichtigste Entdeckung aus den 1890er Jahren griff ja nicht etwa einen neurologischen Befund auf, sondern die Beobachtung eines höchst individuellen Umgangs seiner Patienten mit Redewendungen, Wortspielen, Versprechern, Metaphern – also mit der Sprache. So wurde ihm klar, dass sich das Individuum in den Lücken situiert, die sich von Sprechakt zu Sprechakt neu auftun - im Verhältnis zwischen wörtlicher und übertragener Rede. Ein Verhältnis, deren Sinneffekte sich nicht als bipolare Entsprechungen darstellen lassen, sondern als dynamischer Prozess, der einer subjektiven Logik unterliegt. Wenn Freud darum in den Studien beschloss, in der analytischen Arbeit mit seinen Patienten von der Oberfläche des gesprochenen Wortes auszugehen, implizierte dieser Schritt auch eine Abkehr von der Wortwörtlichkeit im Sinne einer bei sich selbst seienden Rede. Doch sonderbarerweise regt sich nicht selten Widerstand dagegen, sich mit dem eigenen Sprechen analytisch zu befassen.

 

Demgegenüber laden die Neurowissenschaften dazu ein, den Prozess der Bewusstwerdung beispielsweise als Erleichterung der neokortikalen Verarbeitung aufzufassen. Demgemäß arrangieren wir uns analog zum Pferd-Reiter-Modell mit uns selbst und der Welt besser, wenn es gelingt, den Neocortex zu regulieren. Das mag so sein, doch was nutzt es für die analytische Arbeit? Wie leicht das Pferd den Reiter abwirft, erleben wir alltäglich im Umgang mit unseren Nebenmenschen. Wie man lernt, mit Menschen zusammenzuleben, bleibt einstweilen ein Erfahrungswert, der einer sprachlichen Dynamik folgt. Die bei Freud entdeckte Sprachlichkeit der Symptome erscheint sofern als Spezialfall eines jeden Sprechaktes. MSG


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