Die Zukunft der Psychoanalyse hängt davon ab, inwieweit sie ein ähnliches Interesse für gesellschaftliche Fragen entwickeln kann, wie es der ersten Generation der Psychoanalytiker gelang.

(A. Mitscherlich)

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missing link – zur psychoanalytischen Arbeitsweise

Auch an den Bahnsteigkanten des Lebens kann mancher Übergang zur echten Herausforderung werden. Bild: "Mind the Gap" Pawel Loj/flickr
Auch an den Bahnsteigkanten des Lebens kann mancher Übergang zur echten Herausforderung werden. Bild: "Mind the Gap" Pawel Loj/flickr

Auch an den Bahnsteigkanten des Lebens kann mancher Übergang zur echten Herausforderung werden. Bild: "Mind the Gap" Pawel Loj/flickr

Am Ende eines Briefes benutzt Freud den Ausdruck ‚missing link‘, als wäre er ihm besonders geeignet erschienen, um den epistemologischen Sonderfall von Psychoanalyse auf den Punkt zu bringen. In diesem Brief antwortet Freud dem deutschen Psychosomatiker Georg Groddeck, der sich im Mai 1917 mit einigen Überlegungen zum „Es“ an ihn gewendet hatte:

 

„Das Es“, schreibt Groddeck, „das in geheimnisvollem Zusammenhang mit der Sexualität, dem Eros oder wie man es sonst nennen will, steht, formt ebenso die Nase wie die Hand des Menschen wie es seine Gedanken und Gefühle formt, es äußert sich ebenso als Lungenentzündung oder Krebs wie als Zwangsneurose oder Hysterie und ebenso wie die als Hysterie oder Neurose vortretende Tätigkeit des Es Gegenstand der psychoanalytischen Behandlung ist, ist es auch der Herzfehler oder der Krebs. An sich existieren Wesensunterschiede nicht, die uns zwingen könnten, hier den Versuch der Psychoanalyse zu machen und dort nicht. Vielmehr ist es nur eine praktische Frage, eine Frage des persönlichen Ermessens, wo man aufhören will, psychoanalytisch zu behandeln“ (Freud/Groddeck. Briefe über das Es. 1974, 1988. Brief v. 27. Mai 1917).

 

Groddecks Überlegungen berühren die Frage eines psychophysischen Parallelismus in der Psychoanalyse. Demnach habe Freud die Rückbindung an die Biologie und die Neurologie nie aufgegeben, sondern seine psychologischen Theorien der Seele stets parallel zur Physiologie aufgefasst. (Vgl. Wolfgang Leuschner 1992, S. 17) Auch vor diesem Hintergrund ist Freuds Antwort auf Groddecks Zeilen interessant. Dabei wartet Freuds Argumentationsstrategie mit einer Überraschung auf:

 

 

„Warum stürzen Sie sich von Ihrer schönen Basis aus in die Mystik, heben den Unterschied zwischen Seelischem und Körperlichem auf, legen sich auf philosophische Theorien fest, die nicht an der Reihe sind? Ihre Erfahrungen tragen doch nicht weiter als bis zur Erkenntnis, daß der ps. Faktor eine ungeahnt große Bedeutung auch für die Entstehung organischer Krankheiten hat? Aber macht er diese Erkrankung allein, ist damit der Unterschied zwischen Seelischem und Körperlichem irgendwie angetastet? Es scheint mir ebenso mutwillig, die Natur durchwegs zu beseelen wie sie radikal zu entgeistern. Lassen wir ihr doch ihre großartige Mannigfaltigkeit, die vom Unbelebten zum organischen Belebten, vom Körperlichlebenden zum Seelischen aufsteigt. Gewiß ist das Ubw die richtige Vermittlung zwischen dem Körperlichen und dem Seelischen, vielleicht das langentbehrte ‚missing link‘. Aber weil wir das endlich gesehen haben, sollen wir darum nichts anderes mehr sehen können.

Ich fürchte Sie sind auch ein Philosoph und haben die monistische Neigung, alle die schönen Differenzen in der Natur gegen die Lockung der Einheit geringzuschätzen. Werden wir damit die Differenzen los?“ (Freud/Groddeck. Briefe über das Es. 1974, 1988. Brief v. 5. Juni 1917. Hervorhebung: MSG)

 

Eingedenk seiner kritischen Einstellung gegenüber einem monistischen Philosophieren empfiehlt Freud hier also, den „Differenzen“ ihr Existenzrecht zu lassen und dieserart auch weiterhin Körperliches und Seelisches auseinanderzuhalten. Allein das Unbewusste erscheint ihm als „richtige Vermittlung“ zwischen Soma und Psyche – als „das langentbehrte ‚missing link‘“.

 

Mai Wegener hat bereits darauf hingewiesen, dass Freud den Parallelvorgang von Körper und Seele spätestens in seiner Schrift „Das Unbewußte“ (1915) aufgab. (Wegener 2004. Neuronen und Neurosen. Der psychische Apparat bei Freud und Lacan: ein historisch-theoretischer Versuch zu Freuds Entwurf von 1895. S. 166f.) Doch abgesehen davon, dass Freud dafür eintritt, psychische Vorgänge unabhängig von ihren physiologischen Begleiterscheinungen zu untersuchen, erweisen sich diese Briefzeilen auch als wichtiger Hinweis auf Freuds Argumentationstechnik, die darin besteht, naturwissenschaftliche Fachwörter, die Grenzen der Fachterminologie überschreitend, aus ihrem Zusammenhang zu entlehnen, um sie in einem neuen und gänzlich verschiedenen Kontext einzusetzen. Dies ist indes ein dezidiert poetisches Verfahren.

 

Der aus der Biologie stammende Begriff ‚missing link‘ beschreibt dort das Fehlen eines Bindeglieds im Fossilbericht. Aufgrund evolutionstheoretischer Überlegungen erscheint diese Lücke als wahrscheinlich und könnte durch das missing link, das fehlende Glied, geschlossen werden. Mit Blick auf das Zitat aus dem Briefwechsel mit Groddeck ist damit auch offensichtlich, dass Freud den naturwissenschaftlichen Term nicht definitionsgemäß einsetzt. Vielmehr hat man es mit einer performativen, genauer: metaphorischen Verwendung des Fachbegriffs zu tun.

 

Sinngemäß wird der sprachliche Ausdruck ‘missing link’ bei Freud zu einem Vermittler zwischen körperlichen und seelischen Vorgängen. In dieser Formulierungsweise drückt sich m.E. Freuds Methode der Erfassung von Zusammenhängen aus, denen die Besonderheit zueigen ist, ein Differenzgeschehen in den Blick zu nehmen, das mit den naturwissenschaftlichen Methoden – Objektivierung und Visualisierung mittels optischer Methoden – in dieser Weise nicht realisierbar wäre. Warum bloß hat der Ausdruck keine weitere Verwendung in Freuds Schriften gefunden?

 

Gerade der Umstand, dass der Ausdruck nicht zu einem psychoanalytischen Begriff wurde, kennzeichnet ihn als Übergangsobjekt, anhand dessen Freud versuchte, in der Korrespondenz mit Groddeck eine neuen Gedanken anhand einer metaphorischen Ausdrucksweise erst zu gewinnen. Dies mag auch der Grund sein, warum Freud den Ausdruck in Anführungszeichen setzte, kennzeichnete er auf diese Weise doch seine Verwendung als eine vorläufige oder uneigentliche. Gemessen an der lexikalischen Bedeutung des Ausdrucks ist Freuds assoziativ-metaphorischer Sprachgebrauch imstande, den Zusammenhang seiner Aussage zu stören oder gar zu unterbrechen, um ungeachtet dessen nur um so präziser und verständlicher zu sein. Und nicht zuletzt entspricht diese Verwendungsweise sprachlicher Ausdrücke auch Freuds originärer Strategie der Sichtbarmachung der Psyche anhand der Technik der freien Assoziation, die ihm den Einfall zur Verwendung des Ausdrucks ‘missing link’ für seinen Brief an Groddeck beschert haben mochte.

 

Der kleine Ausschnitt aus Freuds Korrespondenz bringt daher nicht nur die Gegensätzlichkeit von natur- und geisteswissenschaftlicher Methode zum Ausdruck, sondern macht überdies deutlich, wie im Wechselspiel von naturwissenschaftlichem Begriffswissen und den Gesetzen der Sprache der analytische Prozess zustandekommt. Der Biologie entlehnt wirkt der Ausdruck ‘missing link’ somit als positivistischer Referenzrahmen für eine semantisch strukturierte Suchbewegung des Denkens. MSG

Auch an den Bahnsteigkanten des Lebens kann mancher Übergang zur echten Herausforderung werden. Bild: "Mind the Gap" Pawel Loj/flickr

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